Full text: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung - 47.1895 (47)

 
Dieſes Ich, das als Summe der pſyhiſ<hen Erſcheinungen aufge- 
faßt wird, muß doch aber erſt geſchaffen werden. Nun fagt N. 
ſelbſt: „Die geiſtige Entwiklung beginnt mit den Erzeugniſſen 
einer mehauniſc< und naturnotwendig wirkenden Kauſalität. Aus 
dieſen gehen aber die höheren Früchte und die nicht rein mechaniſch 
wirkenden Mächte hervor.“ Die mechaniſche Kauſalität erzeugt dem- 
nach aus ſich ſelbſt heraus dreierlei: 1) jene „höheren Bewußt- 
ſeinszuſtände“ (dann ſind ſie doh nicht von Haus aus mit ihr vor- 
handen!); 2) das J<h, das die Seele „aus der Naturnotwendigkeit 
des naten ſeeliſchen Me<hani3mu3“ erlöſt. =- Was fich wohl N. 
unter dem pſychiſchen Mechani3mus ohne Seele denken mag? Ich 
meine, der kommt gleiß nach dem Lichtwerſchen Meſſer. Durch 
das Ausſcheiden der Seele vernichtet ſich der ſeeliſche Mechani3- 
mus nah N. aber keine3weg8, wird auch nicht überflüſſig, ja, nicht 
einmal weſentlich ander3; er ſchafft vielmehr 3) ganz neue Kauſa- 
litäten, deren Wirkung er fortlaufend bedingt und friedlich unterſtüßt. 
Die Frage wird jetzt verwickelt, indem dem naten ſeeliſchen 
Medhani3mus eine Reihe anderer Kauſalitäten gegenübergeſtellt 
werden, die „höherer“, beſonder8 „nicht mechaniſc<er“ Art, nicht 
ſtreng naturnotwendig, kurz weſensSverſchieden ſind. „So lange in 
der Seele keine anderen Kauſalitäten wirken als die des nackten 
ſeeliſCQ<Gen Mechani3muS, kann von keiner Freiheit des Wollens 
die Rede ſein.“ Bei der weittragenden Bedeutung dieſer neu ein- 
geführten Begriffe darf man doch wohl eine ſcharfe Faſſung ver- 
langen. Wo3 iſt nun unter ihnen zu verſtehen? Sind dieſe höheren 
Kräfte in jenen von dem rohen Mec<hani3mus erzeugten höheren 
Bewußtſeinszuſtänden, in dem „praktiſchen Verſtand“, in dem 
„äſthetiſchen und ſittlichen Wertbewußtſein“ zu ſuchen? Das könnte 
man wohl -- allerding38 der obigen Darlegung entgegen -- aus 
den Sägen entnehmen: „Der Ablauf der Vorſtellungen (gemeint 
iſt hiermit der rohe pſy<hiſche Mechani3mus) aber kann allmählich 
normiert oder geregelt werden. In dieſem Falle greiſen beſtimmte 
Bewußtſeinöinhalte in die Abfolge der Vorſtellungen rvegelnd, ord- 
nend, abwehrend, ergänzend, verbeſſernd, überhaupt beſtimmend ein. 
Mit dieſem geleiteten Gange des Vorſtellungsablauſs wirkt ſtets 
der pſychiſche Machanismus zuſammen“ 2c. Doch dieſe Annahme 
müſſen wir bald als irrig aufgeben. Unter jenen Kauſalitäten ſind 
nicht3 weniger als pſyc<hiſc<e Inhalte zu verſtehen, es ſind 
nach N. leere Formen, etwa Kategorien im Sinne Kant3; denn 
„die höheren, nichtmechaniſchen Kauſalitäten ſtimmen darin überein, 
daß ſie (erſt!) neue Werte ſc<haffen. Die Denkkauſalität erſchließt 
logiſche Werte, die Schönheit3urſächlichkeit äſthetiſche Werte und die 
ethiſche Wirkſamkeit Sittlichkeit3werte.“ Worin beſteht denn nun 
aber eigentlich der Unterſchied zwiſchen den mehaniſchen und nicht- 
mechaniſchen Urſächlichkeiten? Und wona< ſoll er bemeſſen werden ? 
Doch nicht etwa nac< den Wirkungen! Was könnten die höheren, 
nicht mechaniſchen Kauſalitäten Höheres, Beſſeres erzeugen als „höhere 
Bewußtſein8zuſtände“ und da3 erlöſende J<, dem doch die Summe 
und das Bewußtwerden aller pſychiſchen Zuſtände zugeſchrieben 
wird? Und wie wäre es weiterhin denkbar, daß die eine Form, 
der rohe ſeeliſ<he Mechani8mus, aus ſi< heraus eine andere 
Form als weſentlihen Gegenſatz zu ſich ſelber ſchüfe? - Wir 
laſſen es in Bezug hierauf bei dieſen Widerſprüchen bewenden; die 
einzigen ſind es bei weitem nicht. Und das iſt natürlich; denn dem 
Seelenleben gleich eine ganze Reihe gegenſäßlicher Kauſalitäten zu- 
ſchreiben und ſie daneben ſelbſt wieder in Kauſalnexus bringen, iſt 
eine logiſche Ungeheuerlichfeit, die einen unabſehbaren Wirrwarr 
im Gefolge haben muß. 
Wa nun aber auch die Leſer über eine ſol<he Beweisführung 
gedacht haben mögen, in einem Punkte werden ſich alle begegnet 
ſein, daß nämlich N. den verwickelten Apparat in Bewegung ſekt, 
um die Freiheit de3 Willens in irgend einer Faſſung zu 
beweiſen. Bewahre! Nachdem wir uns geduldig dur< alle Irr- 
gänge gewunden haben und erleichtert nach dem Ziele ausſc<auen, 
wird uns die Enttäuſchung zu teil: „Der Wille giebt keine Geſezße, 
er kann nur den Vollzug der gegebenen bewirken; eben deswegen 
iſt nicht das Wollen an ſich, ſondern nur der Wollende 
frei, autonom.“ BVergißt denn N. ganz und gar, daß durc die 
Vertauſchung de3 Wollens mit dem Wollenden, dem I<, die 
Sachlage vollſtändig verändert, eine ganz neue Frage aufge- 
worfen wird? Bemerkt er doc< eingangs ganz richiig: „Den Kern 
> 
 
ZU 
der Frage nah der Natur des Willens bildet da3 Verhalten des 
Willens zu dem Gedankenkreiſe und dem Gemüte.“ Beim Wollen- 
den aber kommt allein die Möglichkeit der Verwirklihung des 
Wollens durch das I< in Betracht. JIſt der Wille einmal vor- 
handen, dann handelt es ſich überhaupt nicht mehr um Freiheit 
oder Unfreiheit des Wollenden, ſondern allein um Vermögen oder 
Unvermögen (des I<) zum Handeln, und weder Pſychologie noc< 
Ethik, nur Phyſiologie und Phyſik haben dann no< ein Wort zu 
reden. E3 iſt überhaupt ſ<hon an ſich ein arger Mißgriff, das 
Wollen und den Wollenden, den Willen und da38 I< faktiſch ſon- 
dern und einander gegenüberſtellen zu wollen. Das iſt einer von 
den wenigen Punkten, in dem ſich ſogar alle nennenswerten Gegner 
friedlich die Hände reichen, und ebenſo beſtreitet keiner von ihnen, 
daß der Wollende nimmermehr frei wird, wenn es der Wille 
nicht zuvor ſchon iſt. Nun darf man allerdings bei N. nichts ernſt 
nehmen; denn er ſeßt bald genug wieder den freien Willen als 
Thatſache ein =- freilich nur um ihn gelegentlich mit der Frei- 
heit des Wollenden aufs neue auszuwechſeln. Oder jollte er 
auf dieſen Punkt doc< mehr Wert legen, als wir ſeinem beſtändig 
ſchwankenden Gedankengange zufolge annehmen dürfen? Faſt läßt 
es ſich vermuten, wenn er im Anſchluſſe an obigen Saß fortfährt: 
„Nur der Menſ< wird frei, wenn er ſich entſc<ließt, fein 
Wollen an die Richtmaße ſeiner Werturteile, Grundſätze, zu bin- 
den.“ Dann müſſen wir ihn von einer andern Seite faſſen. Der 
Entſchluß wäre alſo Bedingung de3 Wollens, wie ja auch anfangs 
behauptet wurde. Wovon ſoll dann aber der Entſchluß abhängen? 
Nach der letzten Behauptung erſcheint er als ſpontaner Akt des 
I<, mithin dieſes autonom, der Kauſalität entrükt, abſolut frei. 
In Wirklichkeit beeinflußt der Entſchluß aber nicht die Werturteile 
(und Gefühlswerte), ſondern er folgt umgekehrt aus dieſen, 
was N. ja ſelbſt mehrfach zugiebt. Im übrigen iſt ein ſpontaner 
Entſchluß al3 Vorbedingung des Wollens niht nur unmöglich, 
ſondern auch unnötig. Der Menſch muß einfach ſein Wollen an 
die Richtmaße ſeiner Werturteile 2c. binden, er mag nun wollen 
oder nicht, und hiermit iſt dann auch ohne weiteres der Entſchluß 
gegeben. Die Frage liegt eigentlich einfac< genug. Man wird all- 
ſeitig zugeben, daß Entſchloſſenſein und Wollen begrifflich zuſam- 
menfallen. Dann kommt der Unſinn zu Tage: Der Menſ< iſt frei, 
wenn er ſich entſc<licßt, ſeinen Entſc<luß an ſeine Werturteile 2c. 
zu binden -- wenn er ſich entſchließt, ſich zu entſchließen -- wenn 
er will, etwas zu wollen. 
Bei dieſen Einwänden mag es ſein Bewenden haben; im be- 
ſonderen gehen wir nicht auf N.3 praktiſ<e Sclußfolgerungen für 
die Pädagogik ein. Dieſe können von uns erſt dann in ernſtliche 
Erwägung gezogen werden, wenn uns ihre pſychologiſche Grund- 
legung wenigſtens einige Gewähr von Sicherheit bietet. 
aerememenmenenmennemmenmemen 
Sprachreinheit und Sprachreinigung 
geſchichtlich betrachtet. 
Vortrag, gehalten auf der Hauptverſammlung zu Koblenz am 19. Aug. 1894 
von Friedri< Kluge. *) 
Unſere Zeit wird immer von neuem durch ſprachliche Fragen 
erregt. Sprachmeiſter treten auf, die mit unbarmherziger Rückſicht3- 
loſigkeit un3 die Hefte mit Rotſtrichen und Ausrufungszeichen zieren 
und troß allem Kopfſc<hütteln, das wir im einzelnen für dies Ge- 
baren haben, unſer Gewiſſen im ganzen aufrütteln und weden. 
Dann hören wir von berufener Seite, daß unſere ſprachlichen Sün- 
den, von denen ängſiliche Sc<hulweisheit in jedem Jahrhundert zu 
jammern gewußt hat, eigentlich das Leben der Sprache, das Ab- 
ſterben der Vergangenheit und die Vorboten neuer Geſetze bedeuten. 
*) Auf Erſuchen der Leitung aus der „Zeitſchrift des Allgem. 
Deutſchen Sprachverein3“ abgedru>t. Dieſer Verein zählt zur Zeit 
etwa 160 Zweigvereine mit 12 000 Mitgliedern. Die Aufnahme erfolgt 
gegen Zahlung de3 Jahresbeitrages von 3 M. an den Verlagsbuchhändler 
Herrn Eberhard Ernſt zu Berlin W. 41, Wilhelmſtraße 90. -- Jedes 
Mitglied erhält unentgeltlich 1) die Zeitſchrift, 2) die in der Regel 
zweimal im Jahre herausgegebenen wiſſenſchaftlichen Beihefte und 
3) die vom Vereine veröffentlichten Verdeutſchungshefte und ſonſtigen 
Druſchriften. =- Der Wahlſpruch de8 Vereins lautet: „Kein Fremd 
wort für das, was deutſch gut ausgedrü>kt werden kann.“ 
Die Leitung der A. D. L.
	        
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