Sprachreinheit und Sprachreinigung
geſchichtlich betrachtet.
Vortrag, gehalten auf der Hauptverſammlung zu Koblenz am 19. Aug. 1894
von Iriedri< Kluge.
(Fortſezung ſtatt Schluß.)
Oft verdanken wir einem einzelnen Fremdwort mehrfache
deutſ<e Wortgebilde. Wer 3. B. die Geſchichte von lat. 836culum
auf deutſchem Boden ſchreiben würde, das im 16. und 17. Jahr=
hundert gänzlich eingebürgert bei uns war, verſtände zugleich die
Geſchichte unſerer Worte Jahrhundert, Jahrtauſend und
Jahrzehnt. Wir können beobachten, wie die Schriftſteller des
17. Jahrhunderts taſtend nach einer Verdeutſ<hung des Fremd-
worts ſtreben; aber die deutſchen Umſchreibungen jener Zeit waren
nicht jo kurz und ſchlagfertig, daß man gern auf das bequeme
lateiniſche Wort verzichtet hätte. Da arbeitet ſich um 1700 das
Wort Jahrhundert allmählich durc<, aber 882eculum bleibt
einſtweilen noch beliebt, um 1750 wird Jahrhundert vor 8a2e-
culum bevorzugt und nun folgt auf Jahrhundert bald das
nachgebildete Jahrtauſend und um 1800 auch Jahrzehnt für
decennium. So verdanken wir dem fremden 836 cu1lum, inſofern
es eine Zeit lang faſt Bürgerrecht hatte, jene drei ſo bequemen
und glücklichen Wortgebilde, und Sie werden mit mir einig ſein,
daß die Geſchichte des Abſterbens von 8aeculum auf deutſchem
Boden die Geſchichte des Aufkommen3 und Durchdringens jener
heimiſchen Wortgebilde iſt.
Unjere Beiſpiele zeigen --- glaube ich -- deutlich die Neigung,
Fremdländiſc<es und Fremdartiges durch Einheimiſche3 zu erſeßen.
Und wie manches Fremdwort, das lange unausrottbar ſchien, iſt
ſc<ließlich verſchwunden. Die Zeit ſchafft oft unerwartet ſchnellen
Wandel.
Alle Gebildeten und Ungebildeten Deutſchlands bedienten ſich
im 18. Jahrhundert und noh durc< das 1. Viertel des 19. der
franzöſiſchen Bezeihnung demoigelle beziehungsweiſe mamse11
für unſer heutiges Fräulein. Die demoiselle Öſer -- wir ver-
wundern uns über die Bezeichnung in Goethes „Dichtung und
Wahrheit“, und no<h überraſchender iſt e8, daß die eingefleiſchteſten
Sprachreiniger vor dem Worte Halt machten und nur zaghaft nach
einer deutſchen Bezeichnung taſteten. Und der zuerſt den Vorſchlag
Fräulein zu ſagen wagte, der Puriſt Rüdiger, fand auch bei
ſeinen Parteigängern keine Zuſtimmung; Campe verſtieg ſich zu
der ängſtlihen Erwägung: „Der bürgerlihen mamse11 würde es
ebenſo ſehr zu Kopfe ſteigen, wenn ſie mit der ehrbaren Tochter
des Handwerker3 einerlei Namen führen ſollte al8 dem adligen
Fräulein ſich mit der bürgerlichen mamsel1 unter einerlei
Benennung begriffen zu hören.“ Campes Befürchtung war viel-
leicht begründet, aber den Forderungen der neuen Zeit hat jene
kleinliche Sprachſymbolik der Standesunterſchiede weihen müſſen,
und der Sprachreiniger hat Recht behalten.*)
Cin onderes Beiſpiel, wie die Zeit vielfach Wandel ſchafft,
bietet die Geſchichte des Wortes fatal auf deutſchem Boden. Der
Vamburger Dichter Brokes hat i. JI. 1732 einen Aufſaß ver-
öffentlicht: „Ob und welcher Geſtalt das Wort fatal zu verdeutſchen
möglich jei“ und darin ſchließlich die Meinung geäußert, daß das
bequeme Fremdwort vielleiht doc< beſſer beizubehalten ſei: er
kannte eine Überſezung3weiſe noh nicht, die erſt am Schluß des
18. Jahrhunderts aufgekommen iſt. Als G. Forſter 1791 das
indiſche Schauſpiel Cakuntala mit ſeinem engliſchen Titel „ihe
fatal ring“ verdeutſchte, klagte er: „wir haben j<lechterdings kein
Wort, das dem Worte katal in ſeiner Vieldeutigkeit entſpräche“,
und ſo ſagte er „der entſcheidende Ring“, wir würden jetzt ſagen
„der verhängni3volle Ring“ und damit ein Wort gebrauchen, das
etwas über 100 Jahre alt iſt.
*) Es iſt noc< kein Jahrhundert her, daß Campe bei Gelegenheit
der lateiniſchen Titel eine ernſthafte Erwägung anſtellen konnte wie dieſe:
„Sagen wir „Frau Baccalaureuſſen', ſo erſterben uns die lebten Worte
zwiſchen den Lippen; entſchließen wir uns aber nach der Gewohnheit
einiger Gegenden „Frau Baccalaurea“ oder, wie e8 an anderen Orten
üblich iſt, „Frau Baccalaurei“ zu ſagen, ſo will uns da8 Wort auch nicht
über die Zunge.“ -- Und wir heute können un3 kaum no< denken, daß
dieje Baccalaureusfrage ernſthaft war: ſo unmöglich ſcheint uns jeht der.
Gebrauch eine3 ſo plumpen Wortes.
Was die Sprachgeſchichte uns lehrt, iſt die gewiſſe Zuverſicht,
daß die Ausſichten der Fremdworte nicht ſo ängſtlich ſind, wie es
im Streit der Meinungen wohl dargeſtellt wird. Wir dürfen
getroſt die Hoffnung ſchöpfen, daß die Lobredner der Fremdworte
von der Zukunft eines beſſeren belehrt und verſtummen werden.
Fremdworte haben nur unter feſt beſtimmten Geſetzen ein langes
Leben. Nie ſind ſie kurzlebiger, al3 wenn ſie troß undeutſchem
Gepräge der Mode eines Zeitalter3 ihren Einzug verdanken. Die
Maſſe jener Fremdlinge, die ſich im Deutſch des 17. Jahrhundertz3
jo wohl gefallen, haben die Blütezeit unſerer Litteratur nicht
erlebt. Und im Zeitalter Goethes und Campe3 treffen wir Fremd-
worte, die ſic nicht einmal 50 Jahre lang bei uns zu halten
vermocht haben. Die Sprache ſtößt das Fremdartige immer wieder
ab, und die Freunde der Sprachreinigung haben an der Sprache
jelbſt den mächtigſten Bunde3genoſſen. Durch glükliche Bedingungen
vor jener Zerſtörung behütet, die dem Engliſchen faſt bis zur Ver-
leugnung jeiner angeborenen Sprachart widerfahren, hat ſich unſere
Mutterſprache niemals ihrer ſelbſtändigen Erbeigentümlichkeiten
entäußert. Unſer Sprachgefühl iſt zu allen Zeiten ſo ſehr deutſch
geweſen, daß die zeitweiſe Mode es nicht hat zerſtören können;
die angeſtammten Grundfarben und Töne haben ſich nie ſo
grell und abſtoßend geändert, wie es mit dem Engliſchen der
Fall geweſen.
Unſer angeborenes Sprachgefühl äußert ſein Widerſtreben
gegen Fremdes und Fremdartiges ſo unzweideutig, daß man immer
darin =- und mit Recht -- einen weſentlichen Grund gegen das
Fremdwort geſehen hat. I< denke an die volk3etymologiſche Um-
geſtaltung und verdeutlichende Umbildung von Fremdworten. In
einigen Fällen, die man gern hier angeführt, glaube ich aber die
erſten Regungen des Einheimiſchen zu fühlen und die Entſtehung
des Einheimiſchen zu beobachten. Wir ſagen: „das agens ſeines
Leben3 war ſein Ehrgeiz“, wir hören dann: „das treibende agens
war ſein Ehrgeiz“, und ſchließlih heißt es allgemein: „das
Treibende war ſein Ehrgeiz.“ Auf examen folgt eigentlich natur-
gemäß Examensprüfung, und ſeit 1700 kommt dann Prüfung
allein auf, und es gewinnt noch heute vor unſeren Augen Breite und
Umfang. Wenn wir vom treibenden Agens, von Examen3-
prüfungen hören oder leſen, ſo dürfen wir wohl zuverſichtlich
hoffen, daß die Todesſtunde des Fremdworte3 nicht fern iſt. Man
beurteilt ſolche Fälle zu einſeitig, wenn man darin Halbbildung,
unfreiwillige Komik und Geſchmadloſigkeit erkennt. Die reitende
Kavallerie, die Examensprüfung, der Guerillakrieg und
alle jene Beiſpiele, mit denen man ſo gern das Fremde als über-
flüſſig und häßli< brandmarkt =- man muß ſie auch ernſt nehmen
als die echte und wahre Regung, das Fremde allmählich ganz
abzuſtreiſen.
Beweiſt die deutſche Sprachgeſchichte, daß die überwiegende
Maſſe der modiſchen Fremdworte einheimiſchen Wortgebilden von
ſelbſt weichen muß, ſo bleibt noch zu ermitteln, was denn von
fremdem Sprachgut lebensfähig auf deutſchem Boden iſt. Die
Antwort darauf liegt in unſerer biöherigen Betrachtung. Was
unſerem Sprachgefühl widerſtrebt, verfällt dem puriſtiſchen Zug der
Sprache. Was mit unſerem Sprachgefühl ſich verträgt, kann ſich
halten und dauernd einbürgern. Wer glaubt, daß jedes fran-
zöſiſche, jedes lateiniſche Wort entlehnbar und daß die Aufnahme
von Fremdworten an keine Regeln gebunden iſt, der hat ſich nicht
ernſtlich in den Entwiklung8gang unſerer Sprache vertieft.
I<h rede vom Deutſchen. Da3 Engliſche, das unter anderen
Leben3bedingungen erwachſen iſt, muß mit anderem Maßſtab ge-
meſſen werden. Unſere Sprache, die ihren Erb<harakter nie preis-
gegeben hat und immer deutſch geblieben iſt, geſtattet die Aufnahme
und Einbürgerung von Fremdworten nur, ſofern ſie keinen fremd-
artigen Zug, keine fremdartige Farbe in Laut und Bildung verraten.
Je näher das Wort einer fremden Sprache zu unſerer Sprachart
ſtimmt, um ſo leichter, ſicherer und feſter ſchlägt e3 bei uns Wurzel,
und keine Gewalt vermag ein ſol<e8 Gewächs aus unſerem Boden
auszurotten.
Ze näher ſich die Sprachſtufen zweier Völker ſtehen, um ſo
leichter beeinfluſſen ſie ſich gegenſeitig. Die römiſche Kaiſerzeit
hat uns eine Fülle von lateiniſchen Worten geſchenkt, die dauernd
geblieben ſind. Aber jedes dieſer Worte hat in der übernommenen