Full text: Ethische Kultur - 38.1930 (38)

emmeniiltengen 
nächſten Jahren unmittelbarer finanzieller Sorgen enthoben 
und werden es uns ſehr angelegen ſein laſſen, unſere Tätig- 
feit auSzubauen und zu erweitern. | 
Ohne Uebertreibung und UVeberſchäzung wird man be- 
haupten dürfen, daß den Mittelpunkt unſerer Tätigkeii die 
„Lebenösmüdenſtelle“ bildete. Sie iſt e8 auch hauptſächlich, 
die =“- neben den Sonntagsfeiern -- die Ethiſche Gemeinde 
nach außen hin befannt macht. Um eine Vorijtellung von 
dem Umfange der Arbeit in der „Lebensmüdenſtelle“ zu 
geben, mögen einige Zahlen angeführt werden. Im Bes=- 
richt8jahre famen 1336 unglückliche Menſchen zu uns. (Es 
wurden rund 1200 Beratungsſtunden abgehatten, 2678 
Briefe, Geſuche und Eingaben geſchrieben und es fanden 
49 Sitzungen der Mitarbeiter ſtatt. Der. Geldum1aß beträgt 
ungefähr 19 000 Schilling. Die Gemeind2o Wien würdigte 
erfreulicherweiſe unſere Tätigkeit mit einer Suvvention von 
1000 Schilling. Die übrigen 18 000 Schilling wurden aus- 
ſchließlich durc Spenden aufgebracht. Die Ethiſche Ge- 
meinde wurde nicht im geringſten finanziell belaſtet; es 
wurde im Gegenteil die kleine Schuld, welche die „Lebens- 
müdenſtelle“ bei der allgemeinen Vereinsfaſſe hatte, reſtlos 
zurücfgezablt. Nur wer in unſere Arbeit Einblick hat, ver- 
ww 
mag zu ermeſiten, welcher Zeitaufwand, wieviel Sorge, wie- 
viel Geduls, wieviel Selbſtloſigfeit und Opferfreudigkeit 
von etwa 40 Mitarbeitern in dieſen angeführten Zahlen ſteckt. 
E3 wird unſere Leſer intereſſieren, einen kurzen Gin= 
blick in die Arbeit der „LebenöSmüiwvdenſtelle“ zu gewinnen: 
Am 22, Mai werden es zwei Jahre ſein, daß die Le- 
ben35müdenſtelle gegründet wurde. Sie iſt jeit der Ex- 
öffnung täglich abends zwiſchen 6 uns 8 Uhr frei zugänglich 
(auch an allen Sonn- und Feiertagen). 
Im Jahre 1928 wurde die Stelle von 912 Nenjſjchen auf- 
geſucht. Ueber dieſe ſieben Monate beſteht feine Statiſtik. 
Im Jahre 1929 famen 1336 neue Schütklinge hinza. 
Die meiſten Hilfeſuchendon fommen mehrmais, viele j9garx 
ſehr häufig in die Stelle. Die Frequenz geſtaltete fich im 
Jahre 1929 folgendermaßen: 
Die Stelle wurde im Jahre 1929 von 778 Männern 
und 558 Frauen und Mädchen in Anſpruch genommen. Das 
Alter verteilt ſich wie folgt: 
| unter 20 Jahren waren 30, 
zwiſchen 20 und 30 I. 324, 
„ 30 und 40 T. 449, 
„ 40 und 50 TI. 296, 
„ 30 und 660 TI. 169, 
„ 60 und 70 I. 49, 
„ 70 und 80 I. 19. 
Die Motive der LebenöSmiüdiafeit verteilen ſich folgen- 
dermaßen: 
JFamilienzwiſt 84 
Unglückliche Liebe 20 
Nechtsöhilfe . , . . . 93 
Furcht vor Strafe (Kriminalität) 38 
Einſamkeit . . . . . , 20 
Verzweiflung über JIntriguen . . , 2 
Intervention bei Behörden: . 
Beſchaffung wichtiger Dofumente . 13 
Erlangung der Zuſtändigfeit . 2 
Ermöglichung der Heimreiſe . . 13 
Unterbringung im Verſorgungsheim 10 
Gnadengeſuche . . . . . 18 
Erwirfurig der Arbeitsloſenunter= 
ſtüßung . ,. . . . . 18 
Hintanhaltung der Namensnen- 
nung im Gerichtsſaalbericht . 3 
Unterbringung von Kindern . . 4 
Erlangung der Altersrente .. 2 
Bewilligung zur Namensänderung 1 89 
 
Nerven- und Geiſteskrankheit . . + 61 
Trunkſucht , . . . . . . 
Körperliche Krankheit . . . . . 
Allgemeine wirtſchaftliche Not . . . 2? 
Verſchuldung . . . . . . . 38 
Arbeitsloſigkeit . . . . , 
Wohnungsnvot . - . . . . 129 
Niemand wird verhalten, ſeinen Namen zu nennen. 
Von dieſem Rechte haben 24 Männer und 15 Frauen Ge= 
brauc<h gemacht. 
Die „LebenS8müdenſtelle“ hat jet 38 ſtändige Mits=- 
arbeiter, die ehrenamtlich als Berater, Fürſorger, und 
Kanzleikräfte tätig ſind. Außerdem haben ſic<ß 22 Reht3. 
anwälte unentgeltlich zur Verfügung. geſtellt. Nur eine 
Bürokraft iſt beamtet. Im Jahre 1929 wurden 2678 Briefe, 
Geſuche und Eingaben geſchrieben. Die Mitarbeiter hielten 
49 Sißungen ab. 
59 
 
Der Geſamtkoſtenaufwand betrug 13.331 8 87 g. Außer- 
dem wurde noc< die Summe von 8 3434 für beſtimmte Fälle 
von Angehörig oder Freunden Der betreffenden Schüßlinge 
oder durc< Vereine geſammelt. 
+ 
Abteilung Berlin. Auf Einladung der Deutſchen Ge- 
ſellſchaft für ethiſche Kultur iprach am Mittwoch abend im 
Bürgerjaal des Berliner Rathauſes die Wiener Pſychologin 
Profeſſor Charlotte Bühler zur Pſychologie der Fürlorge. 
Was3 aus einem Kinde wird, iſt von ſeinen Anlagen und 
ſeiner Umgebung abhängig. Neuartige Teſt3 geben uns 
heute ſhon ein vorzügliches Mittel in die Hand, die Reak=- 
tionsfähigfeit von Säuglingen in den eriten zwei LebenS- 
jahren zu prüfen. 5 ſtellt ſich dabei heraus, daß körperlich 
ſchlecht entwickelte Kinder in ihrer ganzen „LehenSseniwick= 
ſung“ zurück ſind. Man hat an 2800 Wiener Schulkindern 
Studien gemacht und feſtgeſtellt, daß bis zum ſiebenten Le=- 
benöiahr die Leiſtungen eines Kindes in enger Korrelation 
zu feiner Körperentwiklung ſtehen. In jpäteren Jahren 
erſt fommen Kompenſationen vor, d. bh. körperliche Mängel 
treten manchmal in Verbindung mit hohen geiſtigen Leiſtun= 
gen auf. Dieſe Tatjache erflärt den Rückſtand armer Kinder. 
Die „Rückſrände“ hat eine Schülerin der Vortragen= 
den, Hilbegard Heßer, genau unterjucht. Sie beſiehen nicht 
nur auf inielleftnellem Gebiet, jondern laſſen ſich vor allem 
auch an der Feinheit und Sicherheit der Reaktionen auf den 
anderen Menſchen feſtſtellen. Es iſt aber von größter Wich- 
tigfeit, nicht nur die e:nzelnen Funktionen und Leiſtungen 
quantitativ zu erfaſſen, ſondern die geſamte Lebensſtruftur. 
Jeder Menich entwickelt fich in ſtändiger Wechſelwirfung mit 
der Umgebung. Mit Menſchen uns Material. Das arme 
Kind nun, das häufig die ſchügende Hand entbehren muß, 
ſpürt die Folgen ſeiner Handlungen viel eher und viel mehr 
als das wohlbehütete Kind. Es iſt nicht nur höchſt intere]= 
ſant zu beobachten, wie ſich das Kleinkind ſeine Umgebung 
erobert, ſondern auch aufſchlußreich für das Fürſorgeweien, 
für die Auswahl von Pflegemüttern. 
Wie Pflegemutter und Kind miteinander ausfommen, 
beruht hauptſächlich auf der Fähigkeit des Kindes, die müt- 
terlichen Inſtinkte der Pflegemutter zu wecken. Mit Hilfe 
von Statiſtifen und Grxperimenten iſt die Rednerin zu 7ol- 
genden Reſultaten gefommen: Die innere Hingabe und An- 
teilnahme der Pflegerin iſt iene grundſäßliche NRotwendiJ- 
feit. Darin liegt aber eine Forderung, die meiſt über die 
Leiſtungsfähigfeit der Anſtalten hinausgeht. Das Für1or- 
gefind ſoll alſo nach Möglichfeit in der Familie erzogen 
werden. Selbſt die ärmſte Familie weiſt im Durch]<hnitt 
noch entſc<eidende Vorzüge gegenüber der Anſtalt auf. Die 
geeignetiten Pflegemütter ſind diejenigen, die ſich einſam füh- 
len und ein unbefriedigtes Pflegebedürfnis haben. Am we- 
nigſten geeignet die Frauen, die mit der Annahme eines 
Pfleglings einen beſtimmten Zweck verfolgen. Wenn fich 
pſychologiſche Mittel finden laſſen -- und Frau Bühler iſt 
mit ihren Schülerinnen auf dem Wege dazu -=- jolche Frauen 
vorher zu erfennen und auszuſchalten, ſv iſt für die Fürſor- 
geerziehung das Entſcheidende gewonnen. 
 
 
Bücherſchau 
Bruno Wille: Geſammelte Werfe. Johannes Baum Ber- 
lag, Pfullingen in Württemberg. 1. Band: Der Cwigze 
und jeine Wasken (447 S.). 2. Band: Der Maſchinen- 
menſ< und feine Erlöſung (317 S.). Preis gebunden je 
6 Mk. reſp. 4 Mk. 
ES iſt zu begrüßen, daß nun das weithin verſtreute 
LebenSwerf Bruno Wilties in einer GeſamtausSgabe -er= 
Iheinen ſoll. Geplant ſind 12 ſtattliche Bände, die in guter, 
würdiger Ausſtattung gebunden bei Subſkription auf das 
ganze Werk zu dem erſtaunlich geringen. Preis von je 4 Mk. 
jedem zugänglich ſind, der ſich einen dauernden Genuß, 
eine geiſtige Erholung und ſittliche Erbauung verſchaffen 
will. Mit einem Mann wie Bruno Wille verkehren, der 
Dichter, Denker, Kämpfer in einer Perſon war, heißt ſich 
aus . den Niederungen des Alltagsleben zu den erſehnten 
Höhen einer geiſtigen Schau erheben, bei der alles Gemeine 
in weſenloſem Scheine hinter uns liegt. Die erſten beiden 
Bände ſind aus dem Nachlaß von Emmy Wille herausge- 
geben. Der erſte Band enthält in formvollendeter Darfſtel- 
Iung le3te Gedanfen über die ewigen Rätjelfragen von 
Welt und Leben. Alle alte und neue Weisheit der Menſc<- 
heitödichter und -Denker iſt herbeigerufen und verdichtet 
ſich zu einer erhabenen Symphonie. Der zweite Band iſt 
ein Roman, der in dex Gegenwart ſpielt und zeigt, wie ein 
verworrenes8 Schiſal ſich ſchließlich in befreiender Harmo-
	        
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