Full text: Ethische Kultur - 38.1930 (38)

Muſſolinis Kriegstagebuch 
Wie Vaugin, der neue öſterreichiſche Kanzler, als 
Kriegsminiſter im öſterreichiſ<en Heer, ſo hat Muſſolini 
im ganzen Faſchiſtenreich das Buch Remarques „Im Weiten 
nichts Neues“ verboten. Als Erſaß hat er nun ſeinem Volk 
das eigene Kriegstagebuch hingegeben (herausgegeben, ein- 
geleitet und ins Deutſche überſe8t von Egon Cäſar Conte 
Corti, Zürich-Leipzig-Wien, Amalthea-Berlag; es erſc<eint 
gleichzeitig noch in 7 anderen Sprachen). I< habe dieſes 
Buch mit der gleichen Spannung aufgeſchlagen, wie jed28 
andere über die Jahre des Unheils 1914-1918 und bin 
nicht enttäuſcht worden: die Kämpfe im Hochgebirge nahe 
der Adria, in Kärnten und auf dem Karſt zeigen wieder von 
neuen Seiten, was die Völker bei dieſem Ausbruch der Hölle 
auf Erden gelitten haben. BWergeblich habe ich aber nach 
Spuren einer großen menſchlichen Perſönlichfeit geſucht. 
Wer Italien nach der faſchiſtiſchen Umwälzung bereiſt hai, 
fann ſich dem Eindruck nicht entziehen, daß Muſſolini eine 
Erſcheinung rieſigen Kalibers iſt, ein ungeheurer Wille, eine 
gewaltige Arbeitsfraft, eing glühende Scele, die an einer 
Idee entflammt iſt: Italiens Macht, Größe und Ruhm. Er 
hat in feinem Lande manches Tüchtige durc<geyteßt, wenn 
auch mit unerhörter Gewaltſamkeit. Man begreift, das 
ſolche Männer in unſcrer Zeit Gefolgſchaften finden durch 
ihren mitreißenden Fanatismus. Aber ſind ſie dem ganzen 
Volke Führer in eine beſſere Zufunft? Sind ſie nicht viel- 
mehr VWerführer, die das Land, das ihnen folgt, ins Wer- 
derben reißen, wenn cs nicht noch dicht vor dem Abgrund 
erwacht? Sie aftivieren die Bolfsmaſſen nicht zu vrgani- 
Ichem Iveuaufbau nach den längſt offenbaren, tiefen Geſeßen 
des wirtſchafilichen, pvlitiſchen und fulturellen Lebens, ain 
dem fie gehindert werden durch die Oberſchicht, die alle 
Produftionsmittel beherrſcht. Six ſtreben nicht eine ſinn- 
volle. Böltergemeinſchaft auf der kfleingewordenen Erde au. 
Nein, ſie greifen nv<< einmal in das YJrad der Geſchichte ein 
und ſuchen es rückwärts zu drehen, ſie errichten noch ein- 
mal die harte Herrſchaft einer Minderzahl über die 
dumpfen Maſſen, ſie entfeſſein noch einmal das eitelſte und 
rücfſichtslvſeſt» Itativonalgefühl zur Siedehitze, So bereiten 
ſie nene Kataſtrophen vor, ſeien nun Revolutionen 
vder Kriege. 
Von all dieſem legt Muſſolinis Kriegstagebuch Zeuug- 
nis ab. Gewiß, ex, der Hauptſchuldiger iſt an Jtaliens 
Cintritt in den Weltkrieg, hat ſich als Freiwilliger an die 
Front gemeldet und hat ſich wie viele Hunderttauſend an- 
dere als ein ausdawernder, fur<tloſer, tüchtiger Soldat und 
Korporal erwieſen; auch die Schmerzen einer ſchweren VWer- 
wundung trägt er tapfer. Mit beſcheidener Geſte weiſt er 
.auf die heldenhafte Führung vieler Kameraden hin. Aber 
es iſt unerträglich, wie doch das ganze Buch der Selbſtv2r- 
herrlichung dient, in dem jede Gefahr, jedes Lob, ifedg Au3- 
zeichnung jJorgfältig niedergeſchrieben wird, obwohl keine 
Leiſtungen angeführt werden, die über das übliche Maß 
der Leiden und Taten eines durchſchnitilichen Frontſoldaten 
hinausgingen. Andere haben viel mehr durchgemacht, ohne 
darüber zu ſchreiben. ES iſt eine durch und durc< byzan- 
tiniſche Schrift, zu der Freunde beigeſteuert haben, um dem 
Volke feine duce im hüchſten Glanz zu zeigen, 
Bezeichnend iſt, daß recht oft ſc<öne Gefühle und große 
Worte geprieſen werden, als wären es ſchon Taten. So 
hebt Muſſolini hervor, daß die Soldaten am Jſonzo nie vom 
Angriff, ſondern immer nur vom Bormarſc< [ſprachen und 
nimmt das als ein Zeichen der Heldenhaftigfeit des italieni- 
Ihen Stammes. Sie haben es ſolange geſagt, bis ſie 1917 
zurückgehen mußten. Es waren wahrhaftig nicht italieniſche 
Siege, die Italien beim Friedenöſchluß vergrößert haben, 
ſondern der Uebergang vom Dreibund auf die ſtärkere 
Seite. Seiner Kriegserfolge ſollte ſich Italien nicht rühmen. 
Denkt man an den Ausgang des Ringens in Oberitalien, 
jv wirkt die Selbſtverherrlichung Muſſolinis und ſein Prei3- 
lied auf das kriegeriſche Jtalien ein wenig peinlich. 
Mehrfach werden lange Geſpräche Muſiolinis erwähnt 
mit ſeinen Freunden, die, wie er, für den Gintritt Jtakiens 
in den Krieg gewirkt hatten. (Es fönnte reizvoll ſein, den 
Inhalt fennen zu lernen. Sie werden nicht wiedergegeben. 
es 
'Vom geiſtigen Standpunkt iſt das Buch äußerſt langweilig, 
voll von ungezählten ermüdenden. Wiederholungen der 
95 
 
gleichen Vorgänge, oft mit den gleichen Worten. Auch 
Menſc<henſchilderung iſt Muſſolinis ſtarke Seite nic<t. Er 
fieht “die Menſchen nicht wie ſie ſind in ihrer individuellen 
Wirklichkeit. Er ſieht Typen und hebt an jeder das hervor, 
was er für ſeine einſeitige Darſtellung gebrauchen kann. 
Seine Sprache, die des ſehr erfolgreichen politiſ<en Jour= 
naliſten, verrät Schulung, ſie iſt oft ſachlich und knapp ge=- 
ballt und ermangelt dann nicht einer wohltuenden Klarheit 
und Straffheit. Aber Muſſolini bekennt ſelbſt einmal, daß 
er ein Dichter nicht jei. Nein, er iſt amuſiich und ſein fanäa- 
tiſcher PatriotiSmus hat ſeine Menſchlichkeit faſt völlig über- 
wuchert, wie wir es bei dem begabteſten der Verherrlicher 
des Krieges in Deutſchland, bei Ernſt Jünger, (3. B. „In 
Stahlgewittern“) feſtſtellen müſſen. Solc<e Männer können 
zeitweitig Gefolgſchaft gewinnen in einer Zeit, die naß 
Iteugeſtaltung der wirtſchaftlich = politiſchen Werhältniiſe 
ſchreit, aber zu ciner neuen ſinnvollen Ordnung fönnen ſie 
weder ihr Volk noch die Menſchheit führen. B.F. 
 
Streiflichter 
Iſt der Rundfunf neutral? Bekanntlich ſind vom 
deutſchen Nundfunf Vorträge ausgeſchloſſen, welche partei- 
politiſcher oder ſonſt nicht „neutraler“ Art ſind. Das klingt 
jo auf den erſten Hieb recht beſtechend. Aber 25 erhebt ſich 
die Frage: gibt es eigentlich eine Neutralität in geiſtigen 
Dingen? Und die Erfahrung der letzten Jahre 
hat berets recht deutlich gezeigt, daß unter dieſer Flagge ſich 
eine Zenſur entwickeln fonnte all den Fragen und Cin= 
ſtellungen gegenüber, die angeblich das Empfinden der 
Rundfunfhörer „verleßen“ fönnten. Cs gibt eben keine 
Yeeutralität, wenn man fich nicht auf banale und langweilige 
Themen beſchränfen will. Das gilt vor allem für dieienigen 
Gebiete, die das Welianſchaulicc<e berühren. ES gilt 
vor ailem dann, wenn man, wie das beim Rundfunk der 
Fall iſt, die herrichende Weltanſchauung als neutra- 
les Gebiet betrachtet, und ander: Weltanſchauungen, 
etwa die ſ[vzialiſtijſche, als parteilich betrachtet. Praktiſch 
liegen die Dinge 1vo, daß das Rundfunfprogramm von den 
bürgerlichen Parteien, und hier wiederum beſonders vom 
Zentrum beeinflußt wird, die unter dem Geſichtspunkt der 
UVeberparteilichfeit Programmvorſchlägee anderer, freigeiſti- 
ger oder ſozialiſtiſcher Kreiſe auszuſchalten verſuchen. Die 
Intendanten der Sendegeſellſchaften haben die Verpflich- 
tung, fich den Anweiſungen des politiichen Ueberwachungs5-= 
ausſ<huſjes zu fügen, und daß dieſer die Themen, die ſich 
in Gegenjaß ſtellen zur heutigen Geſellſchaft8sordnung oder 
den herrſchenden Weltanſchauungen, nicht berückſichtigt, liegt 
auf der Hand. Wirkliche Neutralität kann nur 
heißen, daß alle Richtungen, die etwas kulturell wertvolle8 
zu jagen haben, zu Worte kommen können. ES fällt ja auc< 
niemanden ein, etwa das muſikaliſche Programm in der 
Weiſe zu zenſieren, daß beſtimmte künſtleriſc<s Richtungen 
von der Darbietung ihrer Werke ausgeſ<hlofſen ſind! Wir 
leben nun cinmal in einer Zeit ſtarf auseinanderſtrebender 
fultureller Entwicklungen; es geht nicht an, daß man aus8 
einer faljchen Ueberparteilichfeit heraus -- die in praxt 
Ihärfite Parteilichkeit zugunſten der Vergangenheit und der 
herrſchenden Gegenwart gegen die Jdeen einer fommenden 
Zeit iſt =- gerade jene Fragen und Problemſtellungen aus= 
ſchließt, die eigentlich erſt die wahre Kulturbedeutung des 
Nundfſunfs ausmachen würden. Es muß deshalb mit allem 
JRachdruck beiont werden, daß freigciſtige Themen, daß 
pazifiſtiſche Probleme die gleiche Daſein35bedeutung 
baben wie ein Vortrag über die Bedeutung irgend eines 
vDeiligen für die mittelalterliche Kultur oder moderner 
Truſke für den WeltkapitaliSmus der Gegenwart. Wie 
qrotesf iſt etwa die Tatſache, daß jüngſt ein Zwiegeſpräch 
„Können Kriege vermieden werden“, das zwiſchen einem 
Katholitfen und einem Sozialiſten geführt werden vite, ab= 
gejebt werden mußte, weil im UVeberwachungsausſchuß ein 
Vertreter des Reichsinnenminiſterinms Einſpruch erhob! 
Wenn das NReichöswehrminiſterium der Auffaſſung wäre, daß 
vlc<he Themen „gefährlich“ find, würde man das noch be- 
greifen, aber daß es juſt das deutſche Kultnrminiſterium 
jein mußte, iſt eigentlich unverſtändlich! Gegen derartige 
Borfommuiſſe, die Beiſpiele ſtehen zu Dutenden Zur Ver- 
fügung, müſſen die freiheitlich geſinnten Rundfunkhörer ent-
	        
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