Full text: Ethische Kultur - 38.1930 (38)

fehieden Einſpruch erheben. Es hat feinen Zwe> und iſt 
unwürdig, wenn man glaubt, dem deutſ<hen Bolke jeine 
geiſtige Koſt vorſ<reiben zu müſſen. Man gebe allen Auf- 
faſſungen Raum zum geiſtigen Kampf: R. G. H. 
Der lezte Wille. Wer immer in ſeinem Teſtament 
iiber ſein Eigentum verfügt, kann gewiß ſein, daß der Bater 
: Staat ſorgfältig darüber wacht: kein Buchſtabe ſeines leiten 
Willens darf gekränkt werden. Stiftungsbeſtimmungen, die 
Jahrhunderte alt ſind, werden genau befolgt. Der Wort=- 
taut eine8 Teſtaments bleibt unantaſtbar, wenn auch die 
Zeitumſtände eine Aenderung erfordern. In der Infla- 
tionSäjeit ſind viele große Vermögen verloren gegangen, weil 
fie in „mündelſicheren“ Papieren liegen bleiben mußten. 
„Bernunft wird Unſinn . . .“ | 
Ganz anders liegt es, wenn es ſich um weltanſchauliche 
Fragen beim lezten Willen handelt. Nehmen wir an, ein 
unbemittelter Mann in einer Kleinſtadt ſchriebe folgendes 
Teſtament: 
„Jh bin Zeit meines Lebens ein Kirchengegner, 
Atheiſt und Freigeiſt geweſen. I< glaube an die Religion 
der Menſchli<keit und an die werdende Notgemeinſ<aft der 
Arbeitenden ring8 auf der Erde. I< möchte im Tode 
meiner Ueberzeugung treu bleiben. Deshalb wünſche ich, 
daß zu meinen verſammelten Angehörigen, Freunden und 
Kampfgenoſſen: ein Mann im Sinne unſerer Weltanſchau- 
ung ſpricht.“ 
Die Geiſtlichen dieſer kleinen Stadt haben es biSher 
zu verhindern gewußt, daß ein Krematorium gebaut iſt (es 
gibt noc< nicht 100 in Deutſchland), und die Koſten der 
Veberführung zum nächſtliegenden ſind zu hoch.) Da müßte 
es ſchon bei der Beerdigung bleiben. Aber der Friedhof 
des Städtchens iſt ein Kirc<hof, d. h. der Grund und Boden 
gehört ſeit Jahrhunderten der Kirche und die kirchliche Ge= 
meinde hat auf ihm Hausrec<ht. Der Pfarrer droht mit 
Klage wegen Hausfrieden8bruch oder dergl., falls ein frei= 
geiſtiger Sprecher gegen ſeinen Willen eine Totenfeier am 
Grabe abhalten will. Aber auch wenn die hohe Geiſtlichkeit 
duldſamer ſein ſollte: iſt denn ein Sprecher vorhanden, der 
den lezten Willen des Toten erfüllen könnte? Wird er, 
ein Bürger der kleinen Stadt, e8 wagen, dem allgemeinen 
Brauch kirchlicher Beſtattung entgegen zu treten? Da läßt 
denn die beſorgte Familie, um des Friedens willen, doch 
lieber den Pfarrer ſeine altbewährte Predigt halten, 
Weltanſchauung iſt Privatſahe? Nein, tauſendmal 
nein!*) Das glauben nur die hoffnungsloſen JIndividua- 
liſten. Weltanſchauung iſt eine Gemeinſc<haftsſache. Die 
Kirchen wiſſen das und haben ihre Anhänger ſeit alterö3her 
wohlorganiſiert. Daher haben ſie noch gegenwärtig eine 
Macht, die viel weiter reicht als die Werbekraft ihrer Jdeen. 
Sie gebrauchen ſie überall, um die neue werdende Religion 
rückſicht8lo8 zu befämpfen. Der einzelne freigeiſtige Menſc< 
kann weder leben und wirken wie er will, noch kann er auf 
Erfüllung ſeines lezten Willens rechnen, wenn . . ., ja, 
wenn nicht mächtige Organiſationen auf- und ausgebaut 
weriden, 'die den geiſtigen Raum für das neue Menſic<entum 
ſchaffen, geſtalten, feſtigen, ihn ſchüßen und verteidigen 
gegen die Uebergriffe der alten Weltanſchauungsmächte. 
No< ſind die freigewordenen Menſchen zu läſſig, nachgiebig 
und gleichgültig im geiſtigen Ringen. Wenn erſt Millionen 
und aber Millionen, getreu ihrer Ueberzeugung, wirklich 
einen ſolchen letzten Willen niederſchreiben, dann wäre der 
Staat verpflichtet, ihm Geltung zu verſchaffen, der Staat, 
der heute noc< den Kirchen mehr dient als ihm nüßlich iſt. 
B, F. 
* 
Kriegsdienſtverweigerung. Es gibt viele Menſchen, die 
der Auffaſſung ſind, die individuelle KriegSsdienſtver- 
weigerung habe keinen Wert. Es mag zugegeben werden, 
daß ein Krieg, wenigſtens ſo wie heute die Dinge liegen, 
nicht dadurch verhindert wird, wenn du oder ich oder noch 
ein paar Menſchen aus religiöſen oder ethiſchen Gründen 
*) Sollte ſich dieſem temperamentvollen Aufſchrei un=- 
ſere8 Mitarbeiter8 auch ein beſcheidenes „Ja“ entgegen- 
ſtellen laſſen? Wir ſtellen die Frage zur Beſprechung. 
Die Redaktion. 
 
den Dienſt für den Krieg verweigern. Aber wer dieſe Frage 
lediglich von dem Geſichtspunkt einer realen, unmittelbar 
erfolgreißen Antikriegspolitik betrachtet, der ſieht dies 
Problem nicht richtig. Die Bedeutung der Kriegsdienſtver-= 
weigerung in unſerer Zeit liegt in der Tatſache, daß es 
Menſchen gibt, die Vorbild ſein wollen, Symbol für 
eine fommende Menſc<heit. Menſchen, die den 
noch übermächtigen Kräften des MilitariSmus mit dem Ein- 
jaß ihrer ganzen Perſönlichkeit entgegentreten wollen. Es 
geht um das Tat-Bekenntnis zu einer höheren menſchlichen 
Kultur gegenüber der Dogmatik des NationalisSmus. Es 
iſt ein erfreuliches Zeichen, daß ſich die Männer mehren, die 
in Den verſchiedenſten Staaten Europas es wagen, dem 
MilitariSmus zu troßen. Die lieber ins Gefängnis wie 
in die Kaſerne gehen. So befinden ſih in Finland 
einige tapfere Kämpfer für den Frieden im Gefängnis; ſie 
haben ſich geweigert, den Fahneneid abzulegen und irgend-: 
welche mit dem Militär zuſammenhängende Arbeit zu tun. 
Iicht anders in Norwegen. Auch dort ſfizen verſchie- 
dene Männer im Gefängnis für ihre pazifiſtiſche Ueber- 
zeugungstreue, darunter C. V. Lange, der Sohn des Sekre-: 
tärs der Interparlamentariſchen Union, cines Nobelpreis- 
trägers. In der Schweiz das gleiche. In Dänemark 
haben die Pazifiſten vor kurzem eine eindruc>ks5volle Kund- 
gebung in Kolding für den dort im Gefängnis ſitzenden 
Kriegsdienſtverweigerer Anderſen veranſtaltet. Eine Deile- 
gation begab ſich zum BWVolizeichef und verlangte Auskunft 
über das Befinden Anderſen. Sie erfuhren, daß Anderſen 
in einen Hungerſtreif eingetreten ſei. Eine große Wer- 
ſammlung zeigte, daß hunderte mit dem Kriegsdienſtver- 
weigerer ſich ſolidariſch erklärten, und tags darauf waren 
die däniſchen Zeitungen mit einer großen Senſation ver- 
ichen. Und am übernächſten Tage -- wurde Ove Anderſen 
aus dem Gefängnis entlaſſen. 
Noc< ſind dieſe wenigen pazifiſtiſchen Europäer eine 
Handvoll Menſchen. Aber ſie ſind Revolutionäre der 
Geſinnung. Welc<he große geiſtige Umwälzung der 
Weltgeſchichte hätte nicht mit wenigen Menſchen begonnen. 
die den Mut hatten, gegen eine Welt von Vorurteilen und 
Haß zu ſtehen und für ihre Ueberzeugung zu leiden? Vor 
einigen Jahrhunderten haben ſich die Menſchen die religiöſe 
Freiheit crkämpft. Wir werden in den kommenden Jahr- 
zehnten zu kämpfen haben um die Freiheit von nationaliſti- 
Iher Dogmatik. Warum ſollen die nationaliſtiſchen Kriege 
nicht auch einmal ſo der Vergangenheit angehören wie die 
Religivnskriege? Und dieſer Weg der Befreiung wird zu- 
gleich auch der Weg ſein, auf dem die Menſchheit zu einer 
höheren, zu wahrer Kultur kommt. R. G. H. 
Bücherſchau 
Wünſc<, Georg, Lic. theol. Theologiſche Ethif, Sammlung 
Göſchen. Berlin-Leipzig, W, de Gruyter 1925. Mk. 1,35. 
Warum nicht einfach: Chriſtliche Ethik? Weil der 
Verfaſſer der Verſuchung nicht entgangen iſt, troß ſeiner 
ausdrüclichen Verwahrung davegen doch die Ethik mit der 
(proteſtantiſchen) Dogmatik zu unterbauen. Daß er dabei 
erſreulic vorurteilslos iſt, beweiß der Ausſpruch (S. 66): 
„Es gibt in der Tat rein rationale oder auf Diesſeit5swerte 
gegründete Ethik, die das Prädikat des Sittlicen durc<aus 
verdient.“ Die ganze erſte Abteilung gibt eine recht licht- 
volle Darſtellung der philoſophiſ<en Anſchauung vom 
Sittlichen na; Form und Gehalt. Daß aber dann bei der 
Behandlung der Lehrſige aus der Dogmatik hie und da 
leine: Unflarheiten mit unterlaufen, die von der zünftigen 
Thcologie jogar als Ketzereien angenagelt werden könnten, 
iſt faum verwunderlich. So 3. B. bei der Unterſcheidung 
von Heiligen und Profanen. Nachdem ſoeben (S. 76) „alle 
Ertlärung, daß Welt und Menſc< nichts vor Gott, daß Le- 
ben Sünde ſei, daß in der Lehens8verneinung Gottgleichheit 
liege“ für falſ< erflärt werden, wird S. 79 „die Profa- 
nität und Fleiſchlichfeit als kreaturliche Unrein- 
heit, als ſittlihe Schuld empfunden. Alſo doc< eine Art 
Weltbefle>ung der Heiligen. 
(ES erübrigt ſich zu bemerken, daß lebendiger Gotte3- 
glaube, der ſtärker hervortritt, als Chriſtenglaube, die Box= 
ausſezung dieſer ganzen Ethik iſt. --1n3- 
Für die Redaktion verantwortl.: Dr. R. Renzig, Charlottenburg. 
 
 
 
Für Text umd Inſeratenteil verantwortlic< Dr. R. Penzig, Berlin W. 15, Uhlandſtraße 174, | 
Verlag: Verlag für eth. Kultur, Richard Bieber in Berlin 80. 16. Rungeſtr. 25/27. -- Dru: LO. Henſel, Gotteö3berg i. Schlei.
	        
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