Die Kinder- Abteilung der Universgitätsnervenklinik Tübingen. 129
weiligen Zustandes und unter Berücksichtigung der meist recht
Spärlichen und unvollkommenen Angaben über Artung und Leben
Seiner Vorfahren und Verwandten zu betrachten, Sondern Seinen ge-
Samten Entwicklungsgang, insbesondere auch die frühe Kindheit und
Jugend, also die Pergönlichkeit im Längsschnitt, zu Studieren. Diese
Methode psychiatrischer Forschung hat aber meist ihre Begrenzung darin
geſunden, daß man über die Jugend eines Kranken gewöhnlich nur
Sehr wenig Brauchbares erfahreu konnte. Wiachtige Fragen mußten
darum offen bleiben. Gibt es Schon in der Kindheit erkennbare
Merkmale Späterer Erkrankung? Spielen Einflüsse, die aus der Um-
welt einwirken, eine Rolle bei der EKntstehung und Formung der
Seeliechen Störung und welche ? Lassen Sich vorbeugende Maßnahmen
treffen ? Haben Sie Erfolg und in welchem Umfang?
Nur in Sehr beschränktem Maße war es bis vor kurzem möglich,
diesen Fragen wisgenschaftlich, d. h. auf Grund eingehender und um-
fasgender Untersuchungen an einem größeren Material, nachzugehen,
S0 fühlbar auch die Lücke in der Psychiatrie war, die die mangelhafte
Entwicklung der Psychopathologie des Kindegalters darstellte.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die eigentlichen Geistes-
krankheiten Setzen gewöhnlich, wenigstens mit ihren gröberen und
Sinnfälligeren Störungen, erst jengeits des Pubertätsalters ein. Treten
Sie Schon früher auf, 80 werden Sie meist unter religiögen oder
ethischen Gesichtspunkten betrachtet und entsprechend behandelt.
Die feineren Abweichungen von der Norm aber fallen dem ungeübten
Auge gar nicht auf und gerade Sie stellen die 80 wichtigen allerersten
Anfänge dar. Aber Selbst wenn keine Solche Verkennung vorlag, So
kamen diese Kinder Sehr Selten in pSychiatrische Beobachtung. Denn
die Kinrichtungen fehlten hierfür. Die psychiatrischen Kliniken und
Anstalten waren gemeinhin nur auf Krwachsene eingestellt. Und Jeder
Kenner der Verhältnisse weiß, daß die Unterbringung von Kindern
mit der Kigenart und dem Betrieb Solcher nur für Erwachsgene vor-
gegebenen Anstalten nur Schwer vereinbar ist. Sowohl die An-
gehörigen als auch die Psychiater Selbst Scheuten Sich deghalb vor
der Aufnahme von Kindern. Außerdem ist es eine durch mannig-
fache Erfahrung bestätigte Tatsache, daß die Umgebung von HEr-
wachsenen fast immer bei Kindern ein verändertes Verhalten bewirkt.
Auf diese Weise gehen bei den unter Erwachgenen untergebrachten
Kindern wichtige Beobachtungsmöglichkeiten, die das Kind nur in
der ihm entsprechenden Umwelt von Kindern bietet, verloren, wodurch
unter Umständen der Wert einer klinischen Beobachtung (z. B. bei
PSychopathen) ganz hinfällig werden kann.
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