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geblich probiert wurden, unterfangen gie gich, Sich zum Richter über Lehrer
und Eltern aufzuspielen, die ihnen an praktischer Erfahrung und erziehe-
riSchem Instinkt oft haushoch überlegen Sind. Merkwürdigerweise fühlen
Sehr viele Menschen den Drang in gich, über Erziehung und Erziehungs-
Schwierigkeiten zu Sprechen und zu Schreiben, aber nur Sehr wenige von
diesen haben das Bedürfnis, das betreffende Problem gelbst experimentell zu
erproben. Vielleicht hat dies Seine Urgache darin, daß Geduld, Zeit und Ge-
legenheit dazu gehören, jene Situation zu erleben, in der man nicht nur das
Kind Selbst, Sondern auch Seine Schlimmheit oder Seine Angst oder Seinen
Zorn Sehen und jene pädagogisch-therapeutischen Maßregeln erproben Kann,
die man für richtig hält. So zieht man es gewöhnlich vor, nach dem zu
urteilen, was man über die betreffende Schwierigkeit in der Sprachstunde
vom Erzieher oder vom Kinde Selbst erfahren kann; Solche Berichte lasgen
Sich merkwürdig leicht mit jeder wie immer gearteten psychologischen
Theorie in Einklang bringen. -- Diese Vorgangsweise Scheint mir nicht
anders als wenn ein Arzt, ohne die Krankheit gelbst zu gehen und ohne die
Wirkung Seiner Mittel je selbst kontrolliert zu baben, nur nach .ana-
Mmnestischen Berichten ordinieren wollte.
Im folgenden werden zunächst als Beispiele zwei der zuletzt
beobachteten Fälle von Disgozialität nach Enzephalitis epidemica,
80 wie 8ie die Erzieher In mehrwöchentlichem BeisammensSein er-
lebten, dargestellt. In der Späteren Besprechung diesger Fälle
werden wir uns, entsprechend dem Thema dieser Arbeit, auf die
Schilderung der Triebhandlung beschränken und die übrigen neuro-
und psychopathischen Erscheinungen, die regelmäßig oder häufig
das Krankheitsbild der postenzephalitischen Disgozialität im Kindes-
alter mitbilden helfen, nur erwähnen.
Fall 1 Therese G., 14 Jahre alt.
Das Mädchen wurde im Jähre 1931 von einem Erziehungsheim in die
Klinik gebracht. Sie war in dem Heime nur drei Tage gewesen, dann mußte
Sie wegen ihres verrückten Verhaltens hergeschickt werden. Die Ana-
mnese Stammt von einer Erzieherin dieses Heimes, die nur über diese drei
Tage berichten konnte. Von früher wußte gie nur, daß das Mädchen mit
9 Jahren Kopfgrippe durchgemacht habe und Seither in ihrem Benehmen
Sehr verändert gei. |
Die Erzieherin berichtete, daß das Mädchen Sich Schon bei ihrer Auf-
nahme ins Heim wie besessen benommen habe. Sie weigerte gich energisch,
dort: zu bleiben, war in der ersten Nacht Sehr unruhig, Schrie laut, wollte
plötzlich Mandoline Spielen, weckte die andern Mädchen auf. Auch in den
folgenden Tagen war es unmöglich, Sie unter den andern Mädchen zu lassen.
Sie konnte keine Beschäftigung finden, Jagte im ganzen Hause herum,
brachte die Kinder durcheinander, Sprach unzusammenhängendes Zeug. Sieg
war dauernd in Unruhe, hatte immer etwas zu tun, zu wüngechen oder zu
fragen. Sie war 80 Störend, daß man Sie unmöglich behalten Konnte.
Auf der Straße während. des Weges in die Klinik redete Sie mehrere
Bursgchen an, fiel ihnen beinahe um den Hals: „Kennst mi net, i bin aus
Knittelfeld!“ (ihr Heimatort). |
Sie war ein großes, Sehr kräftiges, voll entwickeltes Mädchen von
Häurischem Typus. : Man hätte gie für weit älter, 17- oder 18Jährig halten