Full text: Zeitschrift für Kinderforschung - 46.1937 (46)

404 G. Frankl: 
geblich probiert wurden, unterfangen gie gich, Sich zum Richter über Lehrer 
und Eltern aufzuspielen, die ihnen an praktischer Erfahrung und erziehe- 
riSchem Instinkt oft haushoch überlegen Sind. Merkwürdigerweise fühlen 
Sehr viele Menschen den Drang in gich, über Erziehung und Erziehungs- 
Schwierigkeiten zu Sprechen und zu Schreiben, aber nur Sehr wenige von 
diesen haben das Bedürfnis, das betreffende Problem gelbst experimentell zu 
erproben. Vielleicht hat dies Seine Urgache darin, daß Geduld, Zeit und Ge- 
legenheit dazu gehören, jene Situation zu erleben, in der man nicht nur das 
Kind Selbst, Sondern auch Seine Schlimmheit oder Seine Angst oder Seinen 
Zorn Sehen und jene pädagogisch-therapeutischen Maßregeln erproben Kann, 
die man für richtig hält. So zieht man es gewöhnlich vor, nach dem zu 
urteilen, was man über die betreffende Schwierigkeit in der Sprachstunde 
vom Erzieher oder vom Kinde Selbst erfahren kann; Solche Berichte lasgen 
Sich merkwürdig leicht mit jeder wie immer gearteten psychologischen 
Theorie in Einklang bringen. -- Diese Vorgangsweise Scheint mir nicht 
anders als wenn ein Arzt, ohne die Krankheit gelbst zu gehen und ohne die 
Wirkung Seiner Mittel je selbst kontrolliert zu baben, nur nach .ana- 
Mmnestischen Berichten ordinieren wollte. 
Im folgenden werden zunächst als Beispiele zwei der zuletzt 
beobachteten Fälle von Disgozialität nach Enzephalitis epidemica, 
80 wie 8ie die Erzieher In mehrwöchentlichem BeisammensSein er- 
lebten, dargestellt. In der Späteren Besprechung diesger Fälle 
werden wir uns, entsprechend dem Thema dieser Arbeit, auf die 
Schilderung der Triebhandlung beschränken und die übrigen neuro- 
und psychopathischen Erscheinungen, die regelmäßig oder häufig 
das Krankheitsbild der postenzephalitischen Disgozialität im Kindes- 
alter mitbilden helfen, nur erwähnen. 
Fall 1 Therese G., 14 Jahre alt. 
Das Mädchen wurde im Jähre 1931 von einem Erziehungsheim in die 
Klinik gebracht. Sie war in dem Heime nur drei Tage gewesen, dann mußte 
Sie wegen ihres verrückten Verhaltens hergeschickt werden. Die Ana- 
mnese Stammt von einer Erzieherin dieses Heimes, die nur über diese drei 
Tage berichten konnte. Von früher wußte gie nur, daß das Mädchen mit 
9 Jahren Kopfgrippe durchgemacht habe und Seither in ihrem Benehmen 
Sehr verändert gei. | 
Die Erzieherin berichtete, daß das Mädchen Sich Schon bei ihrer Auf- 
nahme ins Heim wie besessen benommen habe. Sie weigerte gich energisch, 
dort: zu bleiben, war in der ersten Nacht Sehr unruhig, Schrie laut, wollte 
plötzlich Mandoline Spielen, weckte die andern Mädchen auf. Auch in den 
folgenden Tagen war es unmöglich, Sie unter den andern Mädchen zu lassen. 
Sie konnte keine Beschäftigung finden, Jagte im ganzen Hause herum, 
brachte die Kinder durcheinander, Sprach unzusammenhängendes Zeug. Sieg 
war dauernd in Unruhe, hatte immer etwas zu tun, zu wüngechen oder zu 
fragen. Sie war 80 Störend, daß man Sie unmöglich behalten Konnte. 
Auf der Straße während. des Weges in die Klinik redete Sie mehrere 
Bursgchen an, fiel ihnen beinahe um den Hals: „Kennst mi net, i bin aus 
Knittelfeld!“ (ihr Heimatort). | 
Sie war ein großes, Sehr kräftiges, voll entwickeltes Mädchen von 
Häurischem Typus. : Man hätte gie für weit älter, 17- oder 18Jährig halten
	        
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