Full text: Zeitschrift für Kinderforschung - 46.1937 (46)

46 vin G. Frankl: 
veine Mutter war vor 8 Jahren gestorben, von Seinem Vater wußte 
man nichts. Der Knabe hatten den größten Teil Seines Lebens bei einer 
Großmutter auf dem Lande verbracht. Vor 2?/z Jahren hatte er Kopigrippe 
mit langdauernder Schlafsucht. 
Der Beobachtungsbericht von der Abteilung lautet: 
„Lr fühlt gich hier gleich wie daheim, er zählt der Erzieherin in hastiger 
Art, wer und woher er ist. Er ist geinem Wegen nach Sofort als „Enze- 
phalitiker“ zu erkennen, hemmungslos und hastig in der Rede, ohne Fremd- 
heits- und Distanzgefühl, ohne Rückgicht auf Disziplin. Es drängt und 
treibt ihn ständig, er ist dauernd in Tätigkeit, hält bei nichts lange aus. 
Er hat tausend Wünsche, werden zie ihm nicht erfüllt, dann zieht er alle 
Register auf, fleht, weint, Schimpft, Schreit. Gibt man ihm nach, dann hat 
er nach zwei Minuten Schon wieder einen anderen Wunsch. Manchmal 1äßt 
er Sich ablenken, Spielt mit den andern oder lernt, doch rennt er dazwischen 
immer wieder davon und muß zurückgeholt werden.“ | 
„Br tut Sehr gutmütig und verläßlich, ist es vielleicht auch für den 
Augenblick, in dem er etwas beteuert oder verspricht; aber Seine Trieb- 
baftigkeit läßt ihn nicht zur Ruhe kommen. In jedem unbewachten Augen- 
blick stellt er etwas an. Er stiehlt wie ein Rabe, flink, auch in Gegenwart 
Erwachgener. Im Handumdrehen erwischt er vom Weihnachtsbaum Apfel, 
Orangen, Schokolade; er hat auf diese Weise den halben Baum abgeräumt. 
Fehlt den Kindern etwas von ihrem Spiel oder ihren Sachen, 80 hat es gewiß 
er. In einem unbewachten Augenblick hat er Sich hier in die Kanzlei ge- 
Schlichen und gich in der Schreibtischlade zu Schaffen gemacht. Später 
fand man bei ihm einen kleinen Geldbetrag. -- Wird er ertappt, dann leugnet 
er mit unschuldiger und ahnungsloger Miene, wird er überwiegen, dann ist 
er zerknirscht, um im nächsten Augenblick doch wieder etwas anzustellen. 
Ein Fremder muß Sgeine Unschuldsbeteuerungen und Reuebezeigungen 
glauben, 80 überzeugend bringt er Sie vor. Wenn er dagegen fühlt, daß die 
Zuhörer Sich über Seine Taten unterhalten und daß er nichts zu fürchten 
hat, Schneidet er in Seinen Erzählungen Seelenruhig auf, spricht harmlos 
über Seine Delikte, renomiert auch noch mit ihnen. Er richtet Sich da 
genau nach Seiner Umgebung, Spürt Sofort ihre Stimmung und benimmt gich 
demehntsprechend. Es stehen ihm immer die richtigen Ausdrucksformen Zur 
Verfügung.“ 
„Er stellt den Mädchen nach und muß auch in Sexueller Hingicht gehr 
beaufsichtigt werden. Er redet und gibt Sich da wie ein Erwachgener, er- 
zählt, daß er Schon oft fensterln war, daß er ein Mädchen hat. Einem 
Mädchen hier macht er Liebegerklärungen, wirft ihr dauernd Kußhände zu. 
Er ist in dieser Beziehung genau 80 zähe wie g8onst in geinen Wüngchen. 
In Seiner Triebhaftigkeit wäre er Ohne weiteres imstande, die Mädchen zu 
attackieren.“ 
„Er iSt besgonders fink und körperlich geschickt, kann Räder und 
Purzelbäume Schlagen, .auf den Händen durchs Zimmer gehen. Er ist auch 
Schr geschickt in verschiedenen Küngten, als Brettelsänger, Zirkusclown, 
hat da originelle Einfälle und wirkt gerade als Dilettant gut. Er ist auch 
Sonst anstellig. Oft freilich tut er nur 80 als ob er etwas könnte und führt 
damit die Leute hinters Licht. Das kann er ausgezeichnet.“ 
„Er ist von hier fünfmal durchgegangen, die letzten Male trotz .ge- 
nauester Überwachung. Mit feinem Instinkt hat er noch. immer die gün- 
Stigsten Gelegenheiten herausgefunden, wenn während der Vigite oder einer 
allgemeinen Untersuchung alles beschäftigt war oder wenn nur für einen
	        
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