Full text: Zeitschrift für Kinderforschung - 46.1937 (46)

Triebhandlungen bei Dissozialität nach Enzephalitis epidemica usw. 407 
Moment die Tür unbewacht offen Stand. Die beiden ersten Male kam er in 
der Spitalskleidung, ohne erwischt oder aufgehalten zu werden, bis in einen 
entlegenen Stadtteil; am Weg erbettelte er Sich noch eine Menge Geld. Die 
letzten Male wurde er gerade noch beim Sprung über die Mauer des Kranken- 
hausparkes erwischt. Wenn er dann zurückgebracht wurde, machte er Jjedes- 
mal ein reueerfülltes Gesicht und versprach weinend Besgerung. Wenige 
Minuten gpäter aber erzählte er bereits ganz harmlos von den Abenteuern 
Seines Weges. Auch am Tag unsgerer Weihnachtsaufführung ist er durch- 
gegangen, trotzdem er dabei mitspielen Sollte und Sich ganz besonders 
darauf freute.“ 
Zeitweise, besonders wenn er gezwungen wurde, etwas ihm Un- 
angenehmes zu tun, zeigte Sich in den Händen ein starker Schütteltremor 
ähnlich dem eines Parkingonistischen. Er berief sich auch immer darauf, 
wenn er Sich weigern wollte, etwas zu arbeiten. Sonst waren Keine KöÖörper- 
lichen enzephalitischen Symptome nachweisbar. 
Als Urgache dieger Disgozialitätsform, wie Sie hier in zwei 
Fällen beschrieben wurde, wird bekanntlich eine allgemeine "Prieb- 
enthemmung angenommen. "Tatsächlich, wenn man diesen Kin- 
dern zuschaut und auch, wenn man die Berichte über 8ie analySiert, 
muß man finden, daß ibr Leben aus nichts als einer ununter- 
brochenen Folge von Impulshandlungen besteht, durch die 8ie die 
Befriedigung ihrer jeweils aufschießenden Bedürfnisse, Wünsche 
und Lüste mit ungeheurer Rücksgichtslogigkeit anstreben. Die Eigen- 
tümlichkeiten und Eigenschaften dieser Impulshandlungen, eben 
der Triebhandlungen Sollen jetzt beschrieben werden. 
Zunächst iet die Mannigfaltigkeit der Begeh- 
rungen, durch die Solche Triebhandlungen hervorgerufen 
werden, erstaunlich. Von einer begrenzten Zahl von „Trieben“, 
wie die Psychologie Sie unterscheidet (den Sexualtrieb, den Trieb 
zur Nahrungsaufnahme, zum Wandern usw.), Kann hier keine Rede 
Sein. Vielmehr zeigt es Sich, daß von diesgen Kindern in jeder 
Lebenslage wahllos das, was angenehm oder wünschenswert er- 
Scheint, mit der Kraft unbedenklicher Rücksichtslosigkeit an- 
Sestrebt, was unangenehm oder lästig ist, ebenso unbedingt ab- 
gewehrt wird. Es gibt keinen Verzicht, keinen Aufschub, kein 
Kompromiß. Und es gibt auch, was die Kraft des Anstrebens an- 
langt, keinen Unterschied zwisSchen den verschiedenen Wüngchen; 
objektiv Nebensächliches wird mit der gleichen Intengität begehrt 
und der gleichen Zügellosigkeit durchgegsetzt wie Wichtiges und 
Lebensnotwendiges. Aus der Beschreibung von Fall 1 ist dies Sehr 
deutlich zu erkennen; der ganze Tag dieses Mädchens Setzte Sich 
aus einer ununterbrochenen, atemberaubenden Folge von Hand- 
lungen zusammen, in denen Sie unterschiedlos jedem eben awuſf- 
Schießenden Impuls freien Lauf ließ. Welcher Art dieser war, hing 
jeweils von den äußeren Ereignisgen ab und von den Wungchyor- 
Stellungen, die ihr im Augenblick aufstiegen. Jede Handlungs-
	        
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