Full text: Kinderland (Januar 1904) (1904)

 
 
Dezember 1904, 
Heraus8gegeben von Dr. R. Penzig. 
HMonatsbeilage zu „Ethiſche Rultur.“ 
 
 
 
 
Inhalt: 
Zweierlei Umgang mitt Menſc<en. Von F. W. Foerſter. 
Die drei Bäume. Von D. D. 
Drometheus, Von Franz Staudinger. 
50x. Von Lilli Jannajch. 
Zwiſchen den Dornen und am Wege. 
 
Zweterler Umgang mit Menſchen. 
(Für die reifere Jugend.) 
Es gibt zwei verj<hiedene Arten des Umgangs mit 
den Menſc<en: Cinmal der ſichtbare Verkehr, das wirk- 
liche Zuſammenſein. =- Dann der unſichtbare Verkehr, 
das Zuſammenſein in bloßen Gedanken, das Nachdenken 
über einander. 
Bei vielen Menſchen iſt der unſichtbare Verkehr nichts 
als ein Nachklingen des ſichtbaren Verkehrs. Ging man 
verſtimmt oder verärgert auseinander, ſo bleiben die 
Seelen ſolher Menſ<en auch weiterhin voll Mißmut 
und Groll gegen den Abweſenden; wie die Nebelwolken 
in einem Felſental ruhelos hin- und herziehen und ſich 
bald in dieſer, bald in jener Schlucht zuſammenballen, 
jo ziehen in jenen Seelen graue und giſtige Gedanken 
friedlos umher und lagern ſich bedrü>end bald in dieſem, 
bald in jenem Winkel des Innern. 
Dann gibt es Menſc<en, die vorzugsweiſe im Sicht- 
baren leben und ſich überhaupt nicht gern innerlich be- 
ſchäftigen: Sie vergeſſen und verzeihen [<nell und ſind 
bei jedem neuen Zuſammenſein, als ſei nichts vorher 
geſchehen. Aber ſie machen auch bei jedem neuen ZuU- 
ſammenſein die gleichen Fehler -- denn ſie haben ja 
nichts gelernt unterdejjen. 
Niemand wird lernen, mit Menſc<hen umzugehen 
(und das iſt doc; das Wichtigſte auf Erden -- Himmel 
und Hölle liegen darin beſchloſſen!), der nicht das Ge- 
heimnis des unſihtbaren Umgangs entdedt hat: der nicht 
gelernt hat, einen Teil ſeiner Einſamkeit dem ruhigen 
Nachdenken über ſeinen Nächſten zu widmen, damit er 
denſelben beſſer verſtehe, ſeine |hwac<hen Punkie richtig 
zu ſ<onen und ſeine ſtarken Seiten gebührend zu exr- 
mutigen und zu benußen lerne. 
Welch reiches Kapitel iſt „der unſichtbare Umgang 
mit den Eltern!“ Welche Entde>ungen ſind hier noh zu 
machen! Im Kleinen und im Großen! Zu erforſchen, 
was den Vater erqui>kt und ausſpannt nach der Arbeit, 
zu begreifen, warum ihn manche Dinge beſonders ſ<wer 
reizen, nachzudenken über alles Schwere, was eine Mutter 
zu ertragen hat im Leben, ſorgfältig den richtigen Ton 
ſtudieren im Verkehr mit ihr, gerade wenn man älter 
 
wird und ſeine Selbſtändigkeit mehr und mehr anerkannt 
ſehen möhte von ihr. =- Das Alles ſind die wahren 
„häuslichen Aufgaben.“ 
Der richtige Umgang mit Vater und Mutter iſt das 
einzige zuverläſſige Zeugnis der Reife für einen jungen 
Menſchen -- und allein die Art dieſes Umgangs, nicht 
aber VBochen und Trogen, kann den Eltern das BVer- 
trauen geben, daß ſie es mit jemand zu tun haben, der 
wirklich die Kinderſchuhe ausgetreten hat. 
Zum unſichtbaren Umgang mit Geſchwiſtern und 
Freunden gehört vor Allem, daß man nach Streitigkeiten 
einmal ganz von Groll und Aerger abſieht und im Stillen 
die Partei des Andern nimmt, ihn in unſerm eigenſten 
geheimſten Innern noh einmal zu Worte kommen und 
ihn da Alles ſagen läßt, was ſich zu ſeinen Gunſten an- 
führen läßt oder ſein Benehmen erklärt und entſ<uldigt 
-- und noh wichtiger iſt es vielleicht, daß man ihn bei 
dieſer ſchweigenden Unterhaltung auch ſagen läßt, was 
ihn denn an unſerm Benehmen 1o aufgebracht oder ver- 
ſto>t hat. 
„Liebe Deine Feinde!“ -- das iſt vielleicht für die 
Meiſten ein zu ſ<werer Beginn. Verſucht es darum 
zuerſt einmal mit dem „unſichtbaren Umgang“ mit denen, 
die Euch feindlich geſinnt ſind. „Denke ruhig und tief 
nach über Deine Feinde.“ -- Das iſt die Vorſtufe zur 
Liebe: Denn wer ſi< die Zeit nimmt, gründlich nach- 
zudenken über einen Menſc<en, der wird ſtets vom Wiitleid 
ergriffen werden =- und Mitleid iſt der beſte Teil 
der Liebe. 
Bei großen körperlichen Anſtrengungen müſſen wir 
tief Atem holen =- bei großen Aufgaben im Umgange 
mit unſern Mitmenſ<hen müſſen wir unſer Tun und 
Reden aus tiefſter, ſtillſter Seele ſchöpfen, ſonſt werden 
ſie Herr über unſeren Frieden. 
Wenn die Dichter das Paradies als ein Wieder- 
ſehen feiern, in dem jedes Mißverſtändnis verſMwunden 
iſt, das uns auf Erden gegen einander geführt hat und 
wo die Verklärten in himmliſcher Einigkeit zum höchſien 
Lichte emporſhweben, -- könnte uns das nicht die Sehn- 
ſucht we&en, ſchon hier auf Erden jol< ein himmliſches 
Wiederſehen aller Entfremdeten zu veranſtalten, nicht an 
einem fernen Orte, ſondern in der ſtillen Tiefe der Seele, 
wo aller Haß und alle Selbſtſucht ſchweigt, wo nur die 
großen Vorbilder der Liebe leuchten und unſer eigenes 
beſtes Verlangen zu Worte kommt? Und wer weiß, ob 
nicht dies ſchon das wirkliche Paradies iſt, das ſie Alle 
gemeint haben und nac< dem ſie Alle mitten in Streit 
und Groll eine heimliche Sehnſucht trugen? F.
	        
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