Full text: Kinderland (Januar 1904) (1904)

Die drei Bäume.. 
In jedem Jahre wird es Frühling, Sommer, Herbſt 
„und Winter. 
- kommen feſte, braune Knoſpen, aus denen die Sonnen=- 
ſtrahlen langſam die ſchönen grünen Blätter hervorlocen. 
Die ſind erſt klein und hell und zart; ſpäter werden. ſie 
groß, dunfel und derb, und dann färben die heißen Strahlen 
der Auguſtſonne ſie blutig-rot oder goldgelb oder brontebraun. 
' Und dann fommt der Wind und bläſt ſeine wilde 
Muſik durch die Zweige, bläſt und bläſt, bis alle Blätter 
herabgefallen ſind und die Erde decken, ein bunter, raſchelnder 
Teppich. Und dann kommt Nebel und Schnee und Eis, 
und Erde und Bäume und alles wird weiß. So geht es 
alle Jahre, 
Schönheiten, die das Jahr in gewohnter Folge bringt. 
Herrlich wie am erxſien Tag iſt die Welt immer wieder; 
und durch Eure lieben Fenſterlein, die Augen, kann immer 
neue Herrlichkeit in Euch hineinziehn, wenn Ihr nämlich 
verſteht, richtig herauszugucken. Je öfter Ihr das beobachtet, 
dejio mehr Schönes und Intereſſantes werdet ihr entdecken. 
Bald werdet Jhr garnicht mehr begreifen, wie man ſich 
langweilen kann. Doch nicht nur die Natur zieht durch 
Gure klaren Fenſterlein in Guch ein; noch mandy anderes 
könnt Jhr betrachten lernen und Euch dadurch Freude ver= 
ſchaffen. IJ<4 will heut nicht von den verſchiedenen Be= 
ſhäftigungen der Menſchen ſprechen; ich glaube, die verſteht 
ihr zu beobachten. Wenn ein Schloſier, Tiſchler oder anderer 
Handwerker ins Haus kommt, fo ſeid ihr wohl ſtets ſein 
treues Gefolge; auch in der Küche finden es die meiſten 
intereſſant, und nicht blos des „Koſten8“ wegen. (Findet 
Ihr nicht, daß 1ich ſehr höflich bin?) -- Dagegen möchte ich 
wetten, es gibt eine ganze Menge Kinder, die wiſſen nicht, 
was an den Wänden 1ihrer Wohnung hängt, obgleich ſie es 
doch alle Tage jehn. Nämlich es ſpiegelt ſich in den Fenſter- 
lein; es guat aber: niemand heraus und paßt auf. Dabei 
Ut es mit den Bildern ebenſo wie mit der Natur. Wenn 
man ſie aufmerkſam betrachtet, ſo entde>t man immer Neues 
in ihnen und hat immer neue Freuden. Mancherlei Ge- 
danken und Gefühle kommen einem bei Betrachtung eines 
Bildes, das ein guter Künſtler gemacht hat. Ein guter 
Künſtler iſt immer ein Menſch, der ſehr viel gefühlt und 
gedacht hat. Er will ein ſchönes Bild malen, nicht etwa 
Gefühle und Gedanken; aber ganz von ſelbſt kommt etwas 
von dem, was er denkt und fühlt, mit hinein in das Bild. 
Jedes Kunſtwerk iſt eben ein Stückchen von dem Menſchen, 
der es gemacht hat, wie das Blatt ein Stückchen Baum iſt. 
(Das müßt Jhr mir ſchon glauben, wenn Ihr es auch 
noh nicht ganz verſteht. Jhr könnt mir. wirklich glauben; 
denn das 1ſt gerade bei mir die Hauptſache, daß ich Kindern 
nichts vorreden will.) -- Daher kommt es nun, daß :man 
beim aufmerkſamen und häufigen Betrachten eines Kunſt- 
Ih will 
werfs mancherlet Gedanken. und Gefühle Hat, 
Cuch nun erzählen, was ich bei einem Bilde denke und 
fühle, das bei uns- hängt. 
| (E35 iſt ein. kleines Bild, nicht in bunten Farben, nur 
ſchwarz und weiß. ES iſt auch nur eine Nachbildung, aber 
die eines ſehr berühmten Bildes. von einem der größten 
Künſiler aller Zeiten und Länder. Jhr werdet den Namen 
Rembrandt wohl ſchon gehört haben. Das Bild heißt „Die 
drei Bäume.“ E5 ſind drei Bäume darauf abgebildet, die 
Jo eng zuſammenſtehn, daß die Kronen in einander Über= 
gehn; man fann nicht erkennen, wo eine aufhört und die 
andere anfängt. 
land; ſie allein recken ſich gegen den hellen Himmel empor, 
der mir fahl und unheunlich erſcheint, wie vor einem Sturm. 
Da ſchwebt auch jchon aus der Ecke ein dunſtiges Wolfken- 
aebilde heran, und hinter den Bäumen iſt es ſchwarz und 
Das Gras ſproßt hervor, die Bäume be=- 
das wiſſen die Großen und die Kleinen; und 
doch freut ſich Groß und Klein immer aufs Neue über alle 
Die Stämme der Bäume erheben ſich auf 
einer klemen Erhöhung; ring5um ſcheint jumpfiges Flach- - 
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unheimlich. Wenn ic<h lange hinjehe, jo meine ich, ich ſehe, 
wie die Bäume ſich beugen, um den Anprall des Sturmes8 
abzuſchwächen; feſt verkettet bleiben ſie dabei. Stände dort 
ſtatt der drei ein einzelner Baum, e8 wäre mir bange um 
ihn, und wäre er der ſtärkſte. Der Sturm würde ihn doch 
paken und brechen oder entwurzeln. Aber drei, jeder 
einzeln fejtgewurzelt und mit feſtem, geradem Stamm, daber 
treu zuſammenhaltend, ich glaube, denen kann fein Sturm 
etwas anhaben. 
Und ſo wird das Gefühl des Unheimlichen verdrängt 
von einem Gefühl hoher Freude. Die drei Bäume werden 
mir ein Bild der Tapferkeit und Treue. J<h meine nicht 
die Tapferkeit, die ſich darin zeigt, recht viele Menſchen tot 
zu ſchlagen, an der habe ich keine Freude. Nein, die 
Tapferkeit, die in Sturm und Unglü> ausharrt, um ſich 
ſelbſt zu erhalten für die andern. Wenn einer des Kampfes 
müde wird und vor lauter Müdigkeit ſich nicht mehr jo 
eiſern feſtlammern möchte mit ſeinen Wurzeln, jo denkt er 
daran, daß mit ihm auch die andern fallen müßten. So 
denken alle drei, und ſo widerſtehn ſie dem Sturm. 
Aber ſind denn das Bäume? -- Das klingt ja wie 
von Menſchen. -- Ihr habt recht, meine lieben Kinder. 
E83 ſind. Bäume auf dem Bilde; nnd ich ſpree wohl zu 
menſchlich von ihnen. Und faſt bilde ich mir ein, mir jei 
das ſo gegangen, weil es dem großen Rembrandt umgekehrt 
ging und ihm Menſchen zu Bäumen wurden. Doh das 
branc<ht Jhr mir nicht zu glauben. J4 wollte Euch nur 
erzählen, was man alles beim Anblick eines Bildes empfinden 
kann; und das iſt wohl bei jedem Menſchen anders. 
Wenn der Sturm vorüber gebrauſt iſt, und die drei 
Bäume ſich wieder der Sonne freuen, zerzauſt, es Ut wahr, 
aber ganz und ungebrochen -- glaubt ihr nicht, daß ſie 
dann gern an den Sturm zurückdenken werden, durch den 
ſie erſt erkennen konnten, daß ſie alle drei tapfere, ſtarke, 
treue Geſellen ſind? Ich glaube, dieſe Erinnerung iſt auch 
eine Freude, die immer herrlich bleibt, wie am erſten Tag. 
BFrometbeus,.*) 
Von Franz Staudinger. 
Warum doch die Prometheustage immer und immer 
wieder die Menſchen ergreift? In alter Zeit den Heſiod, 
und den Aeschylus, die das Problem des Kampfes Zweier 
Weltmächte ſchon aufs tiefſte empfinden. In neuer Zeit 
die Shelley, die Goethe und andere, auch ſolche, welche zwar 
nicht den Namen Prometheus gebraucht, aber unter anderem 
Namen dieſelbe Sache beleuchtet haben. 
In Byrons Kain ſteckt, wie Jodl mit Recht betont“*), 
dasſelbe Problem, in Schillers „Kampf mit dem Drachen“ 
iſt es nur in anderer Weiſe zum Austrag gekommen, und 
in Siegfried Lipiner8 ſchönem Gedichte „Lucifer“ iſt das- 
ſelbe Grundelement des Kampfes eines ſich höher erachtenden 
Rechtsbewußtſeins gegen mächtigeren Herrenwillen der Grund- 
ton. Iſt nicht im Grunde in dem bibliſchen: „Du jollſt 
Gott mehr gehorchen, als den Menſchen“ derſelbe Gedanke ? 
Spricht ihn nicht ſchon der Antigone Wort von den „ewigen, 
- ehernen, großen Geſetzen," die über gegebenen Geſetzen ſtehen, 
vernehmlich aus? 
In der Tat, hier liegt ein Weltkonflikt vor. Ein Kon- 
ſitt, der freilich nicht immer ſo große Folgen nach ſich zieht, 
wie in der alten Sage. Doch keiner von uns allen bleibt 
von ihm gänzlich ver)<ont. 
Immer und immer wieder triti uns im Kleineren wie 
im Größeren die Frage entgegen, ob wir der Forderung 
eines gegebenen Gebotes nachzukommen, oder einer Stimme 
in uns, die ein anderes für beſſer erklärt, Folge zu leiſten 
 
 
) FÜL unſere „Großen.“ 
**) Vergl. Ethüſyche Kultur 1896, Nr. 9
	        
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