Januar 1911,
IMonatsbeilage zu „Ethiſche Kultur.“
Herausgegeben von Dr. R. Pezzig.
NEENEEIEEIIEGEEEN
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Inhalt:
Neujahrswünjche. Vom Herausgeber.
Neujahr8märchen. Von Grete Oberreich.
Leiden. Skizzen von Ingeborg Berg.
Gin Märchen von ewiger Liebe. Von Robert Walter.
Reujahrswünſche.
Nicht Wünſchen kann die Welt erlöſen,
Nein, Wollen nur, und friſche Tat.
Die Wurzel alles mächt'gen Böſen
Iſt frommer Wünſche faule Saat.
Robert Seidel,
In ganzen ſchweren Wagenladungen werden ſie heuie
zu Millionen kreuz und quer durch das Land verſtreu:, die
„herzlichen Glükwünſche zum neuen Jahre", gedruct, ge-
ſtochen, auf Stein geſchrieben, in Holz geſchnitten, mit oder
ohne billige Randverzierungen -- Maſſenkonfektion, zum
Gebrauch fertig, Modeartikel ohne jede perſönliche Note,
geſc<madloſer „Kitſch.“ Leider geht bei dieſer armſeligen
Allerweltsglükwünſcherei mit der äſthetiſchen Verwilderung
aber auch eine ethiſche Verlabberung des Voll8<harakters vor
ſi9. Das Wünſchen iſt fo entſetzlich billig und „Glüc“ etwas
jo quallenhaft Formloſes, daß unſere ſurrogatenfrohe Zeit
ſich gar nicht mehr ernſthaft mit einem feſten Willens8-
entſhluß, einer klaren Zielſezung und einer friſchen Tat
befaſſen mag.
Ja, unſere Großväter nahmen wohl no<h den neuen
Zeitabſchnitt als Anſtoß zu innerer Beſinnung, zum Rückblick
und Ausbli>; das neue Jahr lag vor ihnen als Neuland,
das mit dem Pfluge eines energiſchen Wollens umgegraben
werden ſollte. Nicht mit guten Vorſäßen; die pflaſtern be-
kanntlich nur den Weg zur Hölle = und fromme Glüc=
wünſche (ſegen wir hinzu) erweichen den Weg zum Himmel
zu einem erbärmlichen Brei.
Anlaß zur Einkehr bei ſich ſelbſt hat ja wohl jeder
Einzelne und unſer deutſches Volk genügend beim Anbrechen
de8 neuen Jahres. Man kann leicht die kranke Stelle bei
fich ſelbſt erkennen: die iſt's, wo wir über das lahme
Wünſchen nicht hinauskommen zum einmaligen ſtarken Wollen.
Die gehört in's Stahlbad, ſodaß ſtatt des nebelhaften „das
möcht! ich“ ein knappes, klares: „hier greif! ich an“ heraus-
ſpringt.
Kehren wir einmal den Sa> voller Wünſche, Glü>
geheißen, um, den unſere Jugend herumträgt. Was fällt
berau8? Geld, viel Geld, Freude, Liebe, Genuß, Ehre,
Ruhm, Geſundheit, Gelegenheit zu tüchtiger Berufsarbeit,
Examenbeſtehen, Heirat, Amt, Familie, langes Leben, . . .
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wa3 weiß ich noh. Da kraßen wir Alten uns den Kopf
und denken: Hm, ganz ſchöne Dinge. Mehr oder weniger
haben wir das ja nun erreicht, und wir wollens nicht ſchelten.
Aber war das eigentlich das Glück? Daß wir darum
ringen und kämpfen konnten, daß wir Kraft in uns jpürten
zum Schaffen und Grarbeiten -- da3 war doh das eigent-
lich Beſeligende. Da8 Haben gibt keine Befriedigung, das
Nichthaben, ſofern es ſich in kraftvolles Wollen umjeßie,
das gab LebenSsinhalt!
Und nun kommen wir in8 Ratgeben, obwohl wir ge-
nau wiſſen, daß ſich Erfahrung nicht verſchenken läßt, daß
die Jugend darauf verpicht iſt, ihre eigenen Fehler zu machen.
Ihr wünſcht euch Geſundheit? Ja, da genügt das
Wünſchen nicht. Ihr müßt ſie wollen. Die heißeſte Sehn-
ſucht fängt ſie nicht mehr ein, wenn ſie erſt weg iſt. Man
kann nicht gleichzeitig das Geſundheitsſ<hädliche wollen und
dabei platoniſch die Geſundheit wünſchen. Statt deſjen:
wollt feſt, wollt gleich, wollt ſtandhaft irgend etwas Kleines:
eine Abhärtung mehr, ein Entbehren, eine Enthaltſamkeit
vom Geſundheits8gift, ein Abbrechen einer ſchlechten Ge-
wohnbeit.
Geht euer Wunſch nah Reichtum? Recht jo. Börne
ſagt einmal: Armut iſt die Sandbank im Meere des Lebens
(freilich: Reichtum auch die Klippe). Nun, der große Geld-
ſack fällt nirgends vom Himmel. Erwirb und ſpare! Bes=-
ſchränke deine Ausgaben, ſteigere die Einnahmen. Im
Kleinen treu! |
Du willſt Liebe8glü>, Ehefrieden, gejunde
Kinder? Wa8 dazu gehört, ſieht heute -- nur heute
noch -=- in deiner Macht. Wie du heute biſt, ſo wird dein
künftiges Schiſal, mehr noc<, das Schic>ſal deiner Nach-
kommen ſein.
Ehre und Anſehen -- nun, ſie ſind keine Prunk-
gewänder, die plößlich dem Menſchen über den Kopf fallen,
mag er ſie ſich noch ſo ſehr, wie Aſchenbrödel ihr goldenes
Kleid, vom Bäumchen zu ſchütteln wünſchen. Nein, ſie wollen
Stü> für Stü>, Jaden für Faden, von dir ſelbſt angefertigt
werden.
Wie harmlo3 und berechtigt iſt der Wunſch nach Genuß.
Die eigene Lebensfreude austollen, Reiſen und Wandern,
viele herrlihe Natur ſchauen, Geſelligkeit, Kameradſchaft,
Freundſchaft, auch Sinnenfreude, Ergößlichkeit für Auge,
Ohr, Mund. Möglichſt viel und gut! Aber zum Genuß
gehört mehr, als alle dieſe Dinge, gehört Genußfähig=
keit. Die aber ſteht wieder auf der Willensſeite. Dazu
gehört ein offenes, freies, durc< keine Schuld getrübtes Ge-
müt, flarer Bli> und reines Herz, viel Lernen und Ueben
der Sinne ſelbſt und -- viel Entbehren. Nur das Entbehren