dd [ 5 > ?
| BT dee
* “..-
|v:-
Mai 1911,
Monatsbeilage zu „Ethiſche Kultur.“
Heraus8gegeben von Dr. R, Peynzig.
€
Inhalt:
Kinderkunſt, Von Joſeph Auguſt Lux. .
Warum ſind uns Bilder eb? Von Dora Schoenflies.
Zwiſchen den Dornen und am Wege.
Kainöderkunſt.
Von Joſeph Auguſt Lux.
In der Welt wird geklagt über das Verſchwinden der
Volkskunſt. Iſt es denn wahr, daß ein menſchliches Eigen-
ium de3 Volkes, ſeine primitive Kunſt, ſo einfach verſchwinden
kann? Wir können die Volkskunſt, dieſes verloren geglaubte
Paradies, jederzeit wiederfinden, wenn wir nur wollen. Die
Welt hat, ſcheint mir, noch gar nicht bemerkt, daß die be-
trauerte Volkskunſt täglich auf8 neue hervorblüht in der
Kinderkunſt. Hier entwickelt ſich allez aus den gleichen
Keimen und zu verwandten Ergebniſſen. Erſt die Schule
und die alles gleichmac<henden Methoden ſezzen den ver-
heißungsvollen Anfängen ein Ende. Bevor das Kind in
die Schule kommt, hat es die erſten Anſäze ſeiner natür-
lichen Bildung und ſeines Talents bereits entwickelt. Es
hat die Sprache, die Bildlichkeit und oft überraſchende Plaſtik
des Ausdruckes, es kann ſich zeichneriſch ausdrücen, beſißt
eine Menge Handfertigkeiten, die ſein natürlicher Geſtaltungs-
trieb, man nennt ihn Spieltrieb, ausgebildet hat, es übt
den Tanz in der uralien Form des Reigens mit Geſang,
e3 kennt die iaufriſche Poeſie der Kinderreime, die ſich von
Kindergeſchlecht zu Kindergeſchlecht überliefern, wie der Tanz
in der Form des Reigens8 mit dem Reigenlied. Es bereitet
ſich ſchon inſtinktiv auf die ſpezifiſchen Aufgaben der beiden
Geſchlechter vor: die Knaben ſammeln, bauen, malen, ver-
fertigen Papierhelme und führen zuweilen Krieg; die Mädchen
neigen zu den Beſchäftigungen häuslicher Ari,
Die Schule bringt alle dieſe Gntwi>lungskeime zum
plöglichen Stillſtand. Sie beginnt ganz neu, ganz fremd,
anſtatt fortzuſegen, was da8 Kind bereits im Keim mitbringt
und in den erſten Anſäßen entwickelt hat. In den erſten
Jahren ſollte ſie Überhaupt nichts Neues vornehmen, ſondern
ſpielen, mit der unmerklichen Abſicht zu lehren, zu vertiefen
und die gegebenen Anſäße zu kräftigen. Das Spiel iſt für
das Kind Arbeit, fruchtbare Arbeit. E38 arbeitet immer in
Material, ſo laſſe man es in allen möglichen Materialien
arbeiten. Das geſchieht zwar zum Teil ſchon im ſogenannten
Handfertigkeitgunterricht, abex es geſchieht auf eine ſyſte-
matiſche und unfruchtbare Weiſe. Den vielfach zu beob=-
achtenden ſchablonenmäßigen Syſtemen des Handfertigkeits-
unterrichtes gegenüber iſt der Grundſaß feſtzuhalten, daß die
Kinder ſtet3 das Bewußtſein behalten müſſen, nur für ſich
zu arbeiten und Dinge herzuſtellen, die ſie für ihr eigenes
Kinderleben praktiſch gebrauchen können. Wie in der bäuer-
lich primitiven Volkskunſt die beſten Werke Schöpfungen
der Liebe und der Verehrung waren, die auf keine Beſtel=
lung und auf keinen Zwang hin entſtanden ſind, ſo arbeitet
auch da8 Kind, wenn man ihm die nur von fernher janſt
geleitete Freiheit läßt, nach einem gleichen Trieb, ſein Leben
nach Gutdünken auszugeſtalten, oder e8 arbeitet auf jener
natürlichen religiöſen Grundlage der Liebe und Verehrung,
und liefert in den Gaben ſein Beſtes.
Ich erinnere mich noh, daß wir in unſerer Bubenzeit
zu den geweihten Tagen, wo wir einen Glü>dwunſch zu er-
bringen haiten, das Glückwunſc<hpapier nah unſerer eigenen
Erfindung mit luſtigen Farben bemalten. Ein jolches Blatt
aus den natürlichen Regungen und dem wachſenden Ge-
ſtaltungsſinn entſtanden, konnte ruhig neben ähnlichen kind
lichen Malereien der Bauernkunſt beſtehen. Es jah dieſen
zum Verwechſeln ähnlich, obwohl es keine Nachbildung,
ſondern eine eigene ſchöpferiſche Tat war, allerdings ähn=-
lichen Antrieben und Empfindungen entſprungen, wie die
bäuerlichen Erzeugniſſe. Wenn ic<h an die rotſlammenden
Herzen denke, emſig in die Papiere>en hingemalt und von
zierlichem Blattgerank mit bunten Blumenſiernen umwunden,
dann überkommt mich Grauen über die Unfruchtbarkeit der
heutigen Erziehung, die ſic< bei ſolchen Anläſſen nict mehr
künſtleriſch zu helfen weiß, ſondern ihre Wunſchpapiere mit
fertig gedrudten läppiſchen Verzierungen aus dem Laden
bezieht. Wenn einmal Buben und Mädchen aus eigenem
Antrieb ſoweit gekommen ſind, mit der Farbe umzugehen,
was ja immer der Fall iſt, dann ſoll die Klexerei ſeeliſch
und künſtleriſch vertieft werden, wie es auf dem angedeute-
ten Wege ſehr leicht möglich iſt. Dabei ſoll jeder pedantiſche
Eingriff, jede Schulmeiſterei, jedes Vorzeihnen und Vor-
machen von einer älteren Hand vermieden und alles auf
den Erfindungs8geiſt des Kindes geſtellt werden. Mit Hilfe
von ein paar Farben und eines Pinſels, die ſich faſt immer
im Kinderbeſitz vorfinden, erſchließen ſich zahlreiche Schafſungs=-
möglichkeiten, die gar ſinnvoll ſind und dem kindlichen Geiſt
durchaus angemeſſen. Warum ſollen in den erſten Schul-
jahren nicht auch die Leſezeichen und Buchzeichen von den
Kindern ſelbſt erfunden und gemalt ſein? Warum ſollen
die Mädchen ihre Stickereimuſter nicht ſelbſt ſchaffend mit
Farbe und Pinſel ermitteln? Es zwingt uns nichts, bei
der Pinſeltechnik ſtehen zu bleiben. Wir wiſſen, daß vor
hundert Jahren der Papierſilhouettenſchnitt ſich der Liebe
der Künſtler und der Kenner erfreute, und daß wir noch
in unſerer Bubenzeit mit Buntpapier und Scheere hantierten,
und Schnitte in zuſammengefaltete Streifen machten, die
auzeinandergelegt ſeltſame Muſter zeigten. Man kann