Full text: Kinderland (Januar 1911) (1911)

iſchen Schulkreiſe wahrſcheinlich mit großer Freude und mit 
großem Vorteil verbringen würde. Um dieſes Zukunſtsbild 
abzuſchließen, möchte ic<h noh eine Spanne weiterdenken und 
hervorheben, daß die kommende, allgemeine Bildung nicht 
nur auf theoretiſcher, ſondern auf handwerklicher Grundlage 
beruhen wird. In vorgeſchrittenen Ländern gewinnt die 
Schule gerade in den Anfangsſtufen mehr und mehr die 
Form von Lehrwerkſtätten, wo die Kinder herrſchen und 
jedes beliebige Handwerk zu irgend einem naheliegenden 
„Zwe, ſowie als Grundlage des höheren Wiſſen38 betreiben 
können. Fachkundiges, williges, pädagogiſch begabtes, 
nicht ſhulmeiſterliches --- Lehrperſonal iſt unerläßliche Vor- 
ausſetzung, ein Lehrperſonal, das alle leiſen Regungen und 
Wünſche der Jugend erfaßt, das Intereſſe in Spannung 
Hält und alle Unterweiſungen in freundſc<haftlicher Art, gleich- 
jam als Spielgefährte gibt. Das in den gewerblichen Grund- 
lagen erworbene Können iſt mit einer Fülle von Kenntniſſen, 
ſchier mühelos erworben, verbunden, die nie vergeſſen werden 
können und eine verläßliche Grundlage des künftigen Leben3 
bilden, während die allzu theoretiſc<en Kenntniſſe der heutigen 
abſtrakten Schule zum größten Teil für das Leben wertlos 
ſind. Wir ſehen ſkandinaviſche und amerikaniſche Schulen 
auf dem beſten Wege nach dieſem Bildungsziel, das die 
natürlichen Anlagen des Kindes fortſezt und für die Auf- 
gaben des Lebens kräftigt. Bei uns zulande fehlt für dieſe 
Sculreform die notwendige private Initiative ; nichts8deſto- 
weniger können im Einzelnen, in Schule und Haus8 aus 
dieſen, in flüchtigem Umriß ſkizzierten Aufgaben Anregungen 
zur ſelbſtändigen Weiterbildung geſchöpft werden. Jeder 
Scritt, der zu dieſem Zweck unternommen wird, dient der 
Befreiung von fruchtbaren Kräften und Anlagen, die uner- 
ſchöpflich ſind und zu Hoffnungen eines veredelten Daſeins 
berechtigen, die in ſchöner gediegener Arbeit und in der Be- 
tätigung vornehmer Geſinnung zum Ausdru>k kommt. Die 
vergangene Volkskunſt, die uns als ein ſolcher Ausdruc> 
erſcheint, können wir wiederhaben, wenn wir nicht die keimen- 
den Triebe immer wieder erſtiken. Kinderkunſt, das iſt die 
reinſte Vollstunſt. 
Warum ſind uns Wilder lieb? 
Von Dora Schoenflies8, München. 
Eure leinen Brüder und Schweſtern, alle vier=, fünf- 
und ſechsjährigen Buben und Mädelchen lieben ihre hübſchen 
Bilderbücher zärtlich. Tag für Tag ſchauen ſie die nämlichen 
Bilder mit gleich lebhafter, jubelnder Freude an. Und 
dann werdet ihr ſelbſt von ihnen mit eifrigen Bitten be- 
ſtürmt: ihr möget ihnen die Geſchichte oder die Verslein zu 
den einzelnen Bildern, die ihr - ihnen doch ſchon ſo oft vor- 
geleſen habt, nog einmal vorleſen! WesShalb ſind wohl 
den Kleinen ihre Bilderbücher ſo lieb und ſo wichtig? 
Da merkt ihr, ſie treffen auf mancher Abbildung etwas 
wieder, was ihnen in der Wirklichkeit ſhon häufig begegnet 
iſt, 3. B. eine Kaße, die ſich das Pfötchen leckt ; oder ſie 
lernen etwas Neues daraus kennen, vielleicht den Ziegenbo> 
mit ſeinem ſpaßigen Bart und den Stoßhörnern, und aus 
dem Verslein erfahren ſie zugleich, was für ein wilder 
Springinsfeld er ſei. Auf anderen Bildern ſind Kinder 
dargeſtellt, die etwa in einer Kutſche ſpazieren fahren oder 
im Ringelreihen luſtig ſpielen. Klein = Brüderchen und 
-Schweſterhen aber überlegen ſich garnicht, daß es ja nur 
Bilder ſind. Sie haben ſoviel Vergnügen am Anſchauen 
des Spiels, wie wenn ſie einem wirklichen Spiel mit allen 
jeinen Aufregungen zuſchauten. . 
- Eu ſelbſt, die ihr ſchon heranwachſt, bereiten ſolche 
Vilder keine Unterhaltung mehr. 
Aber e8 gibt. viele andere, die anzuſchauen ihr ſtolz 
und eifrig ſeid, beſonder38 Bilder, wie ſie von Erwachſenen, 
von euren Eltern, Verwandten und Bekannten zu ihrer 
eigenen Freude an die Wand gehängt oder in Mappen und 
 
über einer welligen Ebene in 
AlbumSs aufbewahrt werden. I< meine fowohl Photographien 
und. andere Nachbildungen von Gemälden und Statuen, 
die irgendwo an einem fernen Ort in einem Muſeum ſind, 
wie Kupferſtiche, Radierungen und Holzſchnitte; ich meine 
auch farbige Bilder, zwar nicht die grell-bunten altmodiſchen . . 
Oeldrucke, die ſind nicht ſchön, ſondern die neuen farbigen 
Künſtlerſteindruc>ke, unter denen e8 viele gibt, die euch gut 
gefallen. Wer von euch in einer größeren Stadt wohnt, 
ſieht ſich in den Schaufenſtern von Buch- und Kunjſihand- 
lungen gerade ſolche farbigen Künſtlerſteindru>e und auch 
andere Bilder oft und gern an. Und wenn in der Stadt 
gar ein Gemäldemuſeum iſt, werden euch auch etliche der 
Vilder dort lieb und vertraut. 
. Wie Vieles habt ihr an jedem Bilde zu betrachten. 
Da iſt zum Beiſpiel einmal eine Mutter mit ihrem 
fleinen Kinde dargeſtellt, mit dem hübſchen Baby, das ſie 
auf dem Arme oder Schoße hält. Wie ſie den Kopf liebe- 
voll gegen das Kindchen neigt, wie ihr Geſicht, ihre Hände 
und Kleidung fein und zart gebildet ſind, wie va38 Kleine 
vergnügt mit ſeinen Händchen patſcht! 
Gin anderes Mal ſind als Porträts, ohne daß irgend 
etwas auf dem Bilde geſchieht, die Köpfe oder die ganzen 
Geſtalten von Menſchen zu ſehen, die euch ganz unbekannt, 
die ſogar meiſtens ſchon ſeit Jahren oder Jahrhunderten 
tot ſind. Und doch habt ihr großen Eifer, die Geſichtsformen 
und den Ausdru>k der Mienen und die prunkhaft faltigen 
Gewänder euch anzuſchauen. Und ihr fühlt . . . 
Ia, was8 fühlt ihr? 
Etwas, was ſo erſtaunlich und ſo ſchön iſt, daß wir 
ganz : behutſam verſuchen wollen, die erklärenden Worte 
dafür zu finden. 
Gin ähnliches merkwürdiges und beglücdendes Gefühl 
wird in euch rege, wenn ihr zum Beiſpiel eine liebliche 
Darſtellung von Rehen ſeht, die auf einer Waldlichtung 
graſen oder etwa ein Bild mit großen Vögeln, die hoch 
ſtürmijchem Zuge, von der 
Sonne durchleuchtet, dahinfliegen. 
Und wenn das Bild vielleicht ein Geſpann ſchwerer 
Arbeitspferde vor dem Pfluge oder ein reifes Kornfeld 
zeigt, und Bäume, Wieten, ein Teich oder ein Flüßchen 
ſind auch noch zu ſehen, jo ergeht es euch vor einem folchen 
Bilde ebenſo. Nicht nur, daß ihr alles Dargeſtellte aus der 
Wirklichkeit kennt, nur daß die Sonne die Farben noch viel 
leuchtender erſcheinen ließ, als ſie auf dem Bilde find; oder 
ihr erinnert euch, wie durch einen Dunſt der Glanz und die 
„Helligkeit aller Dinge verſchwanden oder wie am Himmel 
ein Gewitter aufzog. Zu all dieſem, das euc<4 durch das 
Anſchauen des Bildes nachdrü>lich, wie wenn ihr es gerade 
noh einmal erlebtet, einfällt, kommt noh jenes Gefühl hinzu. 
Etwa ganz Beſonderes -- Was iſt da8? 
Da3 Bild mit dem reichen Kornfelde und den mächtigen, 
knorrigen Eichbäumen bewirkt in uns geradezu ein Wogen 
von Stärke, Stolz und Mut. Wir meinen aus dem An= 
bli> zu empfinden, wie der Baum gegen Bedrohungen des 
Sturmes feſt im Boden wurzelt, und wie der Stamm mit 
den ſcharfen Rillen der Rinde und die holzigen Neſte mit 
den mäßig dichten Blättern kräftig aufgewachſen ſind und 
dieſes guten Wachstums ſich gleichſam freuen. Und gleicher= 
weiſe erweckt das Getreide, das zu vollen, gelben Aehren 
herangereift iſt, in uns die lebhafte Empfindung ſeines kraft= 
vollen Sprießens und Gedeihens8. 
Freilich, das alles beobachtet man am wirklichen Baum 
draußen auf der Wieſe ebenſo; dazu braucht man ſchließlich 
gar fein Bild. Al' das gibt e38 draußen auf dem Lande 
wirklich zu ſehen. 
Und doch findet ihr ſelbſt, daß ole Bilder von Qand- 
ſchaften ſchön anzuſchauen ſind; und es würde euch ſehr 
leid tun, wenn es keine gäbe. Woran liegt das nur? 
Ihr antwortet mir: weil man nicht immer, wenn man 
gerade Luſt hätte, dort hinaus gehen oder fahren kann, wo
	        
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