Full text: Allgemeine deutsche Lehrerzeitung. Feuilleton-Beilage - 51.1899 (51)

Feuilleton-Be 
N 1. 
 
log der „Whemene Deu Sheerimg“. 
Sonntag, den 1. Januar. 
1899. 
 
Vervoßfttät. 
Nach einem Vortrage des Prof. Dr. Moriß in München. 
- Es iſt kein Zweifel, daß heutzutage die Nervoſität eine weit ver- 
breitete Krankheit iſt. Sie findet ſich nicht nur in Deutſchland, ſondern 
auch in Frankreich und England ſo gut wie in Rußland und anderwärts, 
auch in der neuen Welt. 
Die Nervoſität iſt eine Erſcheinung, die mit der Entwiklung unſerer 
Kultur im engſten Zuſammenhange ſteht. Es iſt wohl am Platze, daß 
wir uns bewußt werden, welche Gefahr wir in ihr beſiten und was wir 
anwenden müſſen, wenn wir ſie bekämpfen wollen. Zu dieſem Zwecke 
müſſen wir uns zunächſt klar werden, was man unter Nervoſität über- 
haupt verſteht. Hier muß zunächſt Näheres über das Nervenſyſtem und 
ſeine Ausbreitung im menſchlichen Körper mitgeteilt werden. Das Nerven- 
ſyſtem beſteht aus Gehirn, Rückenmark und Zentralnervenſyſtem. In 
ihrem Verlaufe verteilen ſic dieſe peripheren Nerven und löſen ſich in 
die kleinſten Fäſerc<en auf, die in alle Teile des Körpers dringen. Wir 
finden ſie daher in der Haut, in -den Muskeln, in den Knochengelenken, 
in den inneren Organen, in Herz, Lunge, Magen, in den Sinne8organen, 
in Auge, Ohr, Zunge, Naſe u. |. w. Wir ſind ganz durchwoben von 
Nerven, die alle mit dem Gehirn und Rü>kenmark zufammenhängen. Dem 
entſpricht auch die umfaſſende Rolle, die ſie bei der Thätigkeit unſeres 
Organismus entwickeln. Dieſer ſteht unter der unmittelbarſten Herrſchaft 
der Nerven. Die Sinnesorgane wirken nur durch ſie, jede Empfindung 
 
„geſchieht dur) deren Vermittlung. Sie laſſen uns Schmerz, Freude, 
Hunger u. |. w. empfinden. Das Gefühl des Wohlbehagens ebenſo wie 
das des Mißbehagens werden uns auf dieſe Weiſe übertragen. Aber nicht 
nur die körperlichen, ſondern auch die geiſtigen Funktionen unterſtehen 
der Herrſchaft der Nerven. Die einfachſte Schlußfolgerung, ein ſchöpferiſcher 
Gedanke, die niedrigſte Begierde wie das idealſte Streben wurzeln in den 
Nerven: Jedes Temperament, jeder Charakter ſind nur durch die Art des 
Nervenſyſtems bedingt. 
Dieſes Nervenſyſtem hat zwei Eigenſchaften, aus deren Veränderung 
ſich die Erkrankung, die Nervoſität, ergiebt und dieſe müſſen wir genauer 
betrachten, um zu einem klaren Verſtändniſſe dieſer Krankheit zu gelangen. 
Die erſte Eigenſchaft iſt die der Erregbarkeit der Nerven, worunter die 
Eigenſchaft zu verſtehen iſt, vermöge deren ſie dur< Ausübung eines 
Reizes in Thätigkeit verſezt werden. Wenn wir uns 3. B. mit einer 
Nadel in den Finger ſtehen, ſo empfinden wir Schmerz. Da iſt es die 
Verlegung eine8 Nerves, durch welche der Reiz eintritt. Dieſer Reiz 
pflanzt ſich durc< das Nervenſyſtem zum Gehirn fort und gelangt hier 
zur Empfindung. Wenn wir uns elektriſieren laſſen und der Arm ſich 
beugt oder ſtre>t, ſo übt die Elektrizität den Reiz auf die Nerven aus 
und regt ſie zur Thätigkeit an. Auch das Gehirn kann direkt in Thätig- 
keit geſebt werden. Der Reiz, der hier ausgeübt wird, iſt uns ſeiner 
Natur nach nicht bekannt; man nennt ihn aber den Willen. Hier iſt der 
Wille der Reiz, der das Gehirn zur Thätigkeit anregt. Dasſelbe läßt ſich 
auch von den geiſtigen Funktionen ſagen. Das Geſetz, daß die Nerven 
auf gewiſſe Reize in Thätigkeit kommen, iſt allgemein für alle Menſchen. 
Nicht gleich iſt bei allen Menſchen der Grad, in dem die Nerven erregbar 
ſind. Dieſer iſt ſehr verſchieden und durch natürliche Anlage bedingt. Ein 
Schmied, der das glühende Eiſen bearbeitet, achtet der Funken, die an 
ſeine Arme ſpringen, nicht; aber eine Dame, die ſich am Bügeleiſen brennt, 
kann einen Schmerzenslaut nicht unterdrücken. Der Unterſchied in der 
Erregbarkeit des Nervenſyſtems kann auch angeboren ſein. Das Gleiche 
zilt auch bei der Denkthätigkeit. Der eine Knabe in der Schule hat eine 
ſchnelle Auffaſſungsgabe, der andere begreift wieder ſchwerer. Auch hin- 
ſi<tlich des Gemütes gilt dasſelbe. Der eine Menſch iſt leicht freudig 
erregt, um ebenſo raſch betrübt zu ſein, wenn ihm etwas Unangenehmes 
widerfährt. Bei einem anderen bedarf es wiederum bedeutenderer Anläſſe, 
um erfreut oder betrübt zu werden. Dieſer iſt vielleicht gar nicht im- 
ſtande, jo tief zu empfinden wie jener. 
Neben diefer angeborenen verſchiedengradigen Erregbarkeit unſerer Nerven 
giebt es aber auch eine erworbene. Daß es möglich iſt, eine ſolche Ver- 
ſchiedenheit zu erwerben, iſt eine merkwürdige Eigenſchaft unſeres Nerven- 
ſyſtems. Die Möglichkeit der Steigerung der Erregbarkeit der Nerven bei 
einzelnen Individuen iſt ein wichtiger Punkt, aus dem ſich das Verſtändnis 
ergiebt, wie ſich aus einem normalen Zuſtande heraus allmählich der 
krankhafte Zuſtand bildet. Das Nervenſyſtem kann in ſeiner Erregbarkeit 
geſteigert werden, was dann geſchieht, wenn die Nerven ſehr häufig in 
Erregung gebracht, oft gereizt werden. Dieſe merkwürdige Eigenſchaft er- 
möglicht es, unſere Thätigkeit zu vervollkommnen. Ein Klavierſpieler 
wird es durch jahrelange Übung zu einer virtuoſen Technik bringen; die 
Nerven ſind durch häufigen Reiz leichter erregbar als bei einem Anfänger. 
(Es iſt eine alte Erfahrung, daß geborne Blinde viel beſſer hören und 
feiner fühlen als Sehende, weil eben bei ihnen infolge des fehlenden Seh- 
organes die anderen häufiger geübt, das heißt gereizt werden. Dasſelbe 
gilt auch wieder von der geiſtigen Sphäre. Durd) Übung können wir 
raſcher, ſchärfer denken lernen, unſeren Willen ſtärken, wenn wir öfters 
dazu Gelegenheit haben. Auch unſer Gemüt können wir durch häufigere 
Erregung empfindjamer machen. Eine erhöhte Erregbarkeit unſeres Nerven- 
ſyſtems dürfte nun von vornherein als vorteilhaft erſcheinen und demnach 
erſtrebenswert ſein. In der That hat das raſch reagierende Nervenſyſtem 
große Vorteile gegenüber dem nur träge funktionierenden. Wer ſchlag- 
 
 
 
fertig iſt, hat Vorteile vor dem ſchwerfälligen Menſchen. Sc<arfſinn, gutes 
Auge, gutes Ohr, feines Gefühl befähigen den Menſchen in vielen Berufs- 
arten zu beſſeren Leiſtungen. Aber dieſe Nüßlichkeit einer höheren Er- 
regbarkeit der Nerven bewegt ſich nur innerhalb gewiſſer Grenzen und 
wenn die Erregbarkeit dieſe Grenzen überſchreitet, hört ſie auf, normal 
und vorteilhaft zu ſein; ſie fängt an, krankhaft zu werden. Leider geht 
ſie vielfach über dieſe Grenzen hinaus. Wenn die Reize und Erregungen 
im Übermaß auf unſere Nerven einwirken, wenn ſie zu häufig, zu ſtark 
werden, tritt eine krankhafte Reizbarkeit, eine Überreiztheit des Nerven- 
ſyſtems auf. In dieſer Eigenſchaft haben wir das weſentlichſte Merkmal 
der Nervoſität. ES iſt nicht leicht, die Grenze beſtimmt anzugeben, da 
wir reizbare Nerven in faſt allen Kreiſen der Bevölkerung, namentlich in 
gebildeten Kreiſen, ſo häufig finden, daß ſie uns kaum mehr krankhaft 
erſcheinen. Es iſt z. B. nervö8, wenn jemand ſich abſolut nicht ruhig 
halten kann; es iſt ſchon nicht mehr ganz normal, wenn jemand ein ſo 
empfindliches Ohr hat, daß er es nicht mehr verträgt, wenn man eine 
Thüre zuſchlägt, oder daß er Schmerzen empfindet, wenn jemand mit der 
Peitſche knallt. Das ſind zwar gewöhnliche Dinge, es find aber ſchon 
geringe Erſcheinungen einer obnormen Reizbarkeit. Wollen wir weiter- 
gehen: Eine Dame liebt die Blumen und ihren Geruch ſehr, aber eine iſt 
ihr unausſtehlich, 3. B. Ja8min; ein anderer würde krank, wenn man ihn 
zwingen würde, gewiſſe Speiſen zu eſſen. Der Träger ſolcher erregbarer 
Sinnesorgane hat unter den vielfachen Zufälligkeiten des Lebens, denen 
er nicht ausweichen kann, oft in empfindlicher Weiſe zu leiden. Dem 
einen iſt es in einem Raum zu heiß, dem anderen zu feucht; ein dritter 
findet das Licht unerträglich blendend. Außerordentlich zahlreich ſind 
die Erſcheinungen, die von abnormer Reizbarkeit der inneren Organe 
ſprechen. Sie jind zumeiſt ſchon höheren Grades. Wenn z. B. ein nervöſer 
Menic< geiſtig angeſtrengt arbeitet, ſo kann es kommen, daß er einen Druck 
im Kopſe empfindet. Solche nervöſe Kopfſ<hmerzen können ſtändig werden. 
Bei anderen iſt e8 das Herz, das bei jeder Kleinigkeit heftig zu klopfen 
anfängt; wieder bei anderen iſt es der Magen, der eine ungewohnte Speiſe 
nicht verträgt. In der geiſtigen Sphäre iſt es ebenſo. Es giebt nervös 
denkende Menſchen, bei denen ein Gedanke den anderen jagt. Bei dem 
ſtändigen Hin- und Herſtreiten zwiſchen Überlegung und Gründen kommen 
ſie leiht zur Unentſchloſſenheit. Der Geiſt jener Unruhigen kann viel- 
leiht auch in der Nacht nicht zur Ruhe kommen, und da zeigt ſich denn 
bald ein ſchlimmes Symptom: die Schlafloſigkeit. Ebenſo verhält es ſich 
in der Gemütsſphäre. Wir finden bei nervöſen Menſchen oft ein ganz 
faſſungsloſes Hingeben an den Schmerz, exaltierte Äußerungen der Freude. 
Kleine Anläſſe rufen große Gemütsbewegungen hervor. Wenn man über 
den Tod eines Kanarienvogels untröſtlich iſt, mag das noch ein Zeichen 
von einem weichen Herzen ſein; wenn man aber wegen des Todes des 
Scoßhündchens Selbſtmord begeht, ſo iſt das dann ſchon Nervoſität. Es 
werden viele) eine tauſendköpfige Menſchenmenge meiden; wenn man aber 
den Anbli> eines Einzelnen nicht mehr vertragen kann und menſchenſcheu 
wird, ſo iſt das ſchon eine krankhafte Erſcheinung. 
Die zweite Eigenſchaft unſeres Nervenſyſtems iſt die Ausdauer der 
Nerven. Wir können bei einiger Übung große Märſchemachen, ſchwierige 
Bergtouren unternehmen, ohne erſchöpft zu werden. Außerordentlich aus- 
dauernd ſind unſere Sinnesorgane. Das Gehirn arbeitet mit großer Aus- 
dauer, denn wir können ſtundenlang über ſchwierige Probleme ſtudieren 
und nachdenken. Unſer Wille haftet zähe an dem Entſchluſſe, den er ein- 
mal gefaßt hat. Dieſe Eigenſchaft kann ſich nun ebenfalls bei Nervoſität 
verändern, aber in umgekehrter Weiſe wie die Erregbarkeit der Nerven, nicht 
im Sinne einer Steigerung, ſondern im Sinne einer Herabminderung. 
Die Ausdauer des Nervenſyſtems ſinkt bei nervöſen Menſchen. Dann 
kommt es dazu, daß unſer Gehirn den Dienſt verſagt, weil e8 zu müde 
wird, unſere Entſchloſſenheit, unſer Wille uns verläßt. Dieſes Symptom 
der Nervoſität leitet ſich aus ganz denſelben Urſachen ab, wie die Über- 
reizung. Die Herabminderung der Ausdauer beruht auf folgenden Er- 
ſcheinungen: Wir wiſſen, daß wir unſer Gedächtnis ſchärfen können. 
Jedermann weiß aber, daß, wenn man es überanſtrengt, das Gehirn die 
Aufnahmefähigkeit verliert. Wenn jemand fortwährend vom Unglü> ver- 
folgt wird, ſo tritt bei ihm an Stelle der Erregbarkeit Abſtumpfung. 
Alkohol in kleineren Mengen trägt zur Erregung der Nerven bei; in großen 
Doſen genommen führt er zur Lähmung. 
Das iſt vielleicht ein trauriges Bild; auf der einen Seite eine abnorme 
krankhafte Reizbarkeit, auf der anderen Seite eine leichte Erſchöpfbarkeit. 
So ſchlimm iſt es glücklicherweiſe nicht. Tauſende von Menſchen gehen 
durchs Leben, ohne in ihrer Leiſtungsfähigkeit beeinträchtigt zu werden; 
doh iſt auch die Zahl derer, die das ganze Bild der heutigen Zeit zeigen, 
keine ganz geringe, und wir haben es ſicherlich mit einem ernſten Leiden 
zu thun. Warum iſt das Leiden aber ein Bild unſerer Zeit? Die Ant- 
wort dürfte nicht j<wer fallen. Es birgt das moderne Leben eine Fülle 
von ſchädlichen Reizen unſerer Nerven in ſich; oft führen dieſe zu einer 
Überreizung unſeres Gehirns. Wir haben es herrlich weit gebracht in unſerer 
Zeit; wir dürfen ſtolz ſein auf die vielen Fortſchritte. Der Menſch hat 
es verſtanden, den Dampf und die Elektrizität ſich dienſtbar zu machen. 
Induſtrie und Handel haben dadurc< rieſigen Aufſchwung genommen; 
aber erſchre>end iſt auch die Haſt und die Unruhe, die damit verbunden 
ſind. Eine neu erfundene Maſchine macht Tauſende arbeits8lo8. Infolge- 
 
 
deſſen ſind der Arbeitskräfte überall zu viel, daher der ungemeſſene Zu- 
drang zu jeder Berufsart. Die Folge hiervon iſt eine erbarmungsloſe
	        
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