875
Vorbereitet iſt dieſe Thätigkeit allerdings durc< die Fra-
gen nach der Bedeutung einzeler geleſener Wörter, allein
vollendet wird ſie erſt durg das Leſen und Verſtehen zu-
ſammenhängender Rede, Auch wird das Streben nach Ver-
fändniß zur Unterlage die Fertigkeit in dem richtigen Um-
feen der Zeichen in Laute haben, allein dieß bleibt doh
untergeordneter Zwe und wird von ſelbſt erreicht, wenn
der erſtere methodiſch verfolgt wird. Man hat nach durch-
ſchnittlicher Erfahrung der Fertigkeit im Wörterlefen in der
eigenilichen Volksſchule ein Jahr zu widmen, ſo daß der
Webrauch des Leſebuches ordentlicher Weiſe mit vollendetem
7. Lebensjabre der Schüler begänne. Für die noch übrigen
ſieben Schuljahre muß der Leſeſtoff nach ſeiner pädagog(t-
ſchen Schwierigkeit geordnet werden. Dieſe pädagogiſche
Schwierigkeit beſteht zwar zumeiſt in der des Verſtändniſſes,
allein keineswegs ausſchließlichz; es treten immer mehr an»
dere Aufgaben in den Leſeunterricht hinein. Vor KZllem
die richtige ſchriftliche Nachbildung des Geleſenen, d. h.
zunächſt die Orthographie, welche ihre Grundlage durc<aus
nicht in Regeln, ſondern in der ſcharfen Auffaſſung des
geſehenen Wortbtldes hat, dann aber auch der Styl, wel-
<er nicht aus ſelbſtändiger Darſtellung eigener Gedanken,
ſondern aus Nachahmung geleſener oder auch gehörter mu-
ſterhafter Gedankenreihen hervorgeht, Die Beweiſe für
betdes können hier nicht ausgeführt werden , ſind aber für
denkende Pädagogen ntc<t ſchwer zu finden. Auch hat ſich
die Anficht, daß in der Volksfchule: ein geſonderter grams-
matiſcher Unterricht nicht Pflaß finden könne, ſondern ſich
an Lefen und Schretben anlehnen müſſe, ziemlich durc<ge-
fämpft, und man fann es als eine unwiderſprechliche For-
derung an das Leſebuch hinſtellen, daß es geeignete Bei-
ſpiele für die grammatiſchen Erkenntniſſe der Schüler liefere,
oder vielmehr einen Stoff, woraus ſich dieſe Erkenntniſſe
mit Leichtigkeit entwickeln laſſen. Hieraus ergibt ſich, daß
die Forderungen an den ſprachlichen Gehalt des Leſebuches
ſo überwiegend ſind , daß die an den realen erſt in zweiter
Ernte auftreten dürfen, und daß von einer Vollſtändigkeit
au< nur in einem einzigen Zweige der Schulkwiſſenſchaften
die Rede nicht fein kann. Den Vorleſebüchern kann dieß
in gewiſſem Grade vorbehalten bleiben, die eigentlichen
Leſebücher müſſen darauf verzichten. Allein einleiten, an-
regen müſſen ſie nach allen Seiten, und es muß alſo die
ſprachliche Darſtellung ſih auf Stoffe richten , die dem
Schüler anſchaulich, zugänglich und intereſſant ſind, folg-
Tich meiſtens aus der Weltkunde entnommen, Und wenn
es um die grammatiſche und ftiyliſiiſ<e Aufgabe des Leſe-
buches zu löſen, unvermeidlich iſt, formal zuſammengehö-
rige Säße oder Aufſäße troß ihres widerſtreitenden Jnhal-
tes an einander zu rücken, ſo tft doch dieſer Nothwendigkeit
nicht eher nachzugeben, bis man ſich überzeugt hat, daß
es feinen anderen Ausweg gibt, Soweit es möglich iſt,
ſoll im Kleinen , wie im Großen des Leſebuches Logik herr-
ſchen. Dem Geſetze der Mannichfaltigkeit kann dabei den-
no< genügt werden. Dieß begründet zugleich die Behaup-
tung, daß die ſiyliſtiſche Aufgabe des Leſebuches bei weitem
die höhere iſt, und daß das Hängenbleiben an grammatiſchen
Einzelheiten, zumal an denen der Saßlehre, viele vorhandene
Leſebücher an der nämlichen Klippe ſcheitern läßt , woran die
Gymnaſien zum Theil ihre höhere pädagogiſche Wirkſam-
keit eingebüßt haben -- das iſt an der Buchſtäbelei. |
816
Geben wir dem Leſebuche nam Maßgabe der ſieben Un-
terrichtsjahre ſieben Stufen, ſo werden dieſe vornehmlich
nur der Schwierigkeit nach verſchieden ſein, welche die Ge-
danken und ihre Darſtellung tn dem Leſebuche dem Leſenden
entgegenſeßen, in welche wiſſenſchaftliche Kategorie ſie auch
ſonſt gehören mögen. Die bereits zurückgelegten Stufen
werden aber nicht aufhören, ein Schulbuch zu bilden, wenn
ſie auch aufgehört haben, Leſebuch zu ſein, ſie dienen nun
als ſtyliſtiſche Vorbilder, als grammatiſche Beiſpiele, als
Anlehnungspunkte für zuſammenhängende Kenntniſſe in den
verſchiedenen Schulwiſſenſchaften. Dieß wird vornehmlich
dann der Fall ſein, wenn die dritte Hauptſtufe betreten
wird: das Schönleſen, welches natärlich nur in dem
Vorleſen erſcheint. Die Schule bedarf außer dem Reli-
gionsgunterrichte noc einer Nahrung für die höheren geiſti-
gen Vermögen , für Phantaſie , für Gefühl des Schönen
und Edeln, und dieſe wird ihr näc<ſt dem Geſange durc
das Leſen zugeführt.
Es iſt die Poeſie, welche zu dieſem Zwecke in das Leſe-
buch gezogen werden ſoll, un» von welcher das Volk ſo
wenig ausgeſchloſſen ſein darf, als .die höheren Stände,
aber wenn nicht unnatürliche Entwielungen zum Vorſchein
kommen ſollen, ſo muß es die Volkspoeſie ſein, woraus die
Leſeſtücke gewählt werden. Nicht was dem gebildeten Schrift-
ſteller am meiſten zuſagt, iſt das Rechte, ſondern was die
Schüler erfahrungsmäßig anregt und bis in ſpätere Jahre
mitgenommen wird, Die poetiſchen Stü>e, welche zugleich
in gebundener Rede erſcheinen , können zugleich zu Gedächt-
nißübungen benußt werden, doch erſt dann, wenn ſie mit
völliger Sicherheit geleſen werden. Denn Memoriren ohne
dieſe Vorbereitung führt nothwendig zur Monotonie. So-
nach wird der Leſeſtoff in drei Hauptſtufen vertheilt werden
müſſen. Auf der erſten herrſcht das mechaniſche Leſen, die
Leſefertigkeit vor, es iſt das körperliche Wort, womit es
der Lernende zu thun hat, Die zweite will die Zeichen in
Vorſtellungen verwandeln, Verſtehen deſſen, was Andere
geſchrieben haben, iſt Ziel. Auf der dritten lieſt der Schü-
lex nicht bloß für ſim, ſondern auch für Andere, er ſucht
die in ſich aufgenommenen Vorſtellungen angemeſſen und
ſchön mitzutheilen. Dieſe drei Aufgaben vertheilen ſich aber
nicht nach Lebens - und Schuljahren. Schon bet den erſten
Schritten mengt ſich die zweite und dritte in die vorherr-
ſchende erſte ein. Während das Kind no< ſeine Aufmerk-
ſamfeit auf die Umſetzung der Scriftzeichen in Laute zu
richten hat, ſucht es doh auch ſchon zu verſtehen , und ver-
ſteht. es nicht augenblilich , ſo gelingt es ihm doch bei der
Wiederholung, wo jene erſte Anſtrengung nachläßt. Und -
während es die Zeichen in Laute verwandelt, ſoll es dieſe
Laute auch ſchön hervorbringen , nicht wie es in der häus-
lichen Sprache gewohnt iſt, ſondern wie gebildeie Menſchen,
und insbeſondere ſein Lehrer, vorſprechen. „So ſoll alſo
gleich von Anfang richtig, verſiändig und ſchön geleſen wer-
den. Sobald einer dieſer Zielpunkte vernachläſſigt wird ,
ſeven ſich ſc<liwmme Gewohnheiten veſt, welche „nur mit
Mühe wieder weggeräumt werden können. Allein gleiche
wohl muß die Aufgabe überall nur den Kräften des Kin-
des angemeſſen, die Stufen müſſen pädagogiſch geordnet
ein. | N
' So leicht dieß geſagt iſt, ſo ſchwer iſt es auszuſühren.
Soviel täglich über Pädagogik geſchrieben wird, und ſo