Full text: Allgemeine Schulzeitung - 21.1844 (21)

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Vorbereitet iſt dieſe Thätigkeit allerdings durc< die Fra- 
gen nach der Bedeutung einzeler geleſener Wörter, allein 
vollendet wird ſie erſt durg das Leſen und Verſtehen zu- 
ſammenhängender Rede, Auch wird das Streben nach Ver- 
fändniß zur Unterlage die Fertigkeit in dem richtigen Um- 
feen der Zeichen in Laute haben, allein dieß bleibt doh 
untergeordneter Zwe und wird von ſelbſt erreicht, wenn 
der erſtere methodiſch verfolgt wird. Man hat nach durch- 
ſchnittlicher Erfahrung der Fertigkeit im Wörterlefen in der 
eigenilichen Volksſchule ein Jahr zu widmen, ſo daß der 
Webrauch des Leſebuches ordentlicher Weiſe mit vollendetem 
7. Lebensjabre der Schüler begänne. Für die noch übrigen 
ſieben Schuljahre muß der Leſeſtoff nach ſeiner pädagog(t- 
ſchen Schwierigkeit geordnet werden. Dieſe pädagogiſche 
Schwierigkeit beſteht zwar zumeiſt in der des Verſtändniſſes, 
allein keineswegs ausſchließlichz; es treten immer mehr an» 
dere Aufgaben in den Leſeunterricht hinein. Vor KZllem 
die richtige ſchriftliche Nachbildung des Geleſenen, d. h. 
zunächſt die Orthographie, welche ihre Grundlage durc<aus 
nicht in Regeln, ſondern in der ſcharfen Auffaſſung des 
geſehenen Wortbtldes hat, dann aber auch der Styl, wel- 
<er nicht aus ſelbſtändiger Darſtellung eigener Gedanken, 
ſondern aus Nachahmung geleſener oder auch gehörter mu- 
ſterhafter Gedankenreihen hervorgeht, Die Beweiſe für 
betdes können hier nicht ausgeführt werden , ſind aber für 
denkende Pädagogen ntc<t ſchwer zu finden. Auch hat ſich 
die Anficht, daß in der Volksfchule: ein geſonderter grams- 
matiſcher Unterricht nicht Pflaß finden könne, ſondern ſich 
an Lefen und Schretben anlehnen müſſe, ziemlich durc<ge- 
fämpft, und man fann es als eine unwiderſprechliche For- 
derung an das Leſebuch hinſtellen, daß es geeignete Bei- 
ſpiele für die grammatiſchen Erkenntniſſe der Schüler liefere, 
oder vielmehr einen Stoff, woraus ſich dieſe Erkenntniſſe 
mit Leichtigkeit entwickeln laſſen. Hieraus ergibt ſich, daß 
die Forderungen an den ſprachlichen Gehalt des Leſebuches 
ſo überwiegend ſind , daß die an den realen erſt in zweiter 
Ernte auftreten dürfen, und daß von einer Vollſtändigkeit 
au< nur in einem einzigen Zweige der Schulkwiſſenſchaften 
die Rede nicht fein kann. Den Vorleſebüchern kann dieß 
in gewiſſem Grade vorbehalten bleiben, die eigentlichen 
Leſebücher müſſen darauf verzichten. Allein einleiten, an- 
regen müſſen ſie nach allen Seiten, und es muß alſo die 
ſprachliche Darſtellung ſih auf Stoffe richten , die dem 
Schüler anſchaulich, zugänglich und intereſſant ſind, folg- 
Tich meiſtens aus der Weltkunde entnommen, Und wenn 
es um die grammatiſche und ftiyliſiiſ<e Aufgabe des Leſe- 
buches zu löſen, unvermeidlich iſt, formal zuſammengehö- 
rige Säße oder Aufſäße troß ihres widerſtreitenden Jnhal- 
tes an einander zu rücken, ſo tft doch dieſer Nothwendigkeit 
nicht eher nachzugeben, bis man ſich überzeugt hat, daß 
es feinen anderen Ausweg gibt, Soweit es möglich iſt, 
ſoll im Kleinen , wie im Großen des Leſebuches Logik herr- 
ſchen. Dem Geſetze der Mannichfaltigkeit kann dabei den- 
no< genügt werden. Dieß begründet zugleich die Behaup- 
tung, daß die ſiyliſtiſche Aufgabe des Leſebuches bei weitem 
die höhere iſt, und daß das Hängenbleiben an grammatiſchen 
Einzelheiten, zumal an denen der Saßlehre, viele vorhandene 
Leſebücher an der nämlichen Klippe ſcheitern läßt , woran die 
Gymnaſien zum Theil ihre höhere pädagogiſche Wirkſam- 
keit eingebüßt haben -- das iſt an der Buchſtäbelei. | 
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Geben wir dem Leſebuche nam Maßgabe der ſieben Un- 
terrichtsjahre ſieben Stufen, ſo werden dieſe vornehmlich 
nur der Schwierigkeit nach verſchieden ſein, welche die Ge- 
danken und ihre Darſtellung tn dem Leſebuche dem Leſenden 
entgegenſeßen, in welche wiſſenſchaftliche Kategorie ſie auch 
ſonſt gehören mögen. Die bereits zurückgelegten Stufen 
werden aber nicht aufhören, ein Schulbuch zu bilden, wenn 
ſie auch aufgehört haben, Leſebuch zu ſein, ſie dienen nun 
als ſtyliſtiſche Vorbilder, als grammatiſche Beiſpiele, als 
Anlehnungspunkte für zuſammenhängende Kenntniſſe in den 
verſchiedenen Schulwiſſenſchaften. Dieß wird vornehmlich 
dann der Fall ſein, wenn die dritte Hauptſtufe betreten 
wird: das Schönleſen, welches natärlich nur in dem 
Vorleſen erſcheint. Die Schule bedarf außer dem Reli- 
gionsgunterrichte noc einer Nahrung für die höheren geiſti- 
gen Vermögen , für Phantaſie , für Gefühl des Schönen 
und Edeln, und dieſe wird ihr näc<ſt dem Geſange durc 
das Leſen zugeführt. 
Es iſt die Poeſie, welche zu dieſem Zwecke in das Leſe- 
buch gezogen werden ſoll, un» von welcher das Volk ſo 
wenig ausgeſchloſſen ſein darf, als .die höheren Stände, 
aber wenn nicht unnatürliche Entwielungen zum Vorſchein 
kommen ſollen, ſo muß es die Volkspoeſie ſein, woraus die 
Leſeſtücke gewählt werden. Nicht was dem gebildeten Schrift- 
ſteller am meiſten zuſagt, iſt das Rechte, ſondern was die 
Schüler erfahrungsmäßig anregt und bis in ſpätere Jahre 
mitgenommen wird, Die poetiſchen Stü>e, welche zugleich 
in gebundener Rede erſcheinen , können zugleich zu Gedächt- 
nißübungen benußt werden, doch erſt dann, wenn ſie mit 
völliger Sicherheit geleſen werden. Denn Memoriren ohne 
dieſe Vorbereitung führt nothwendig zur Monotonie. So- 
nach wird der Leſeſtoff in drei Hauptſtufen vertheilt werden 
müſſen. Auf der erſten herrſcht das mechaniſche Leſen, die 
Leſefertigkeit vor, es iſt das körperliche Wort, womit es 
der Lernende zu thun hat, Die zweite will die Zeichen in 
Vorſtellungen verwandeln, Verſtehen deſſen, was Andere 
geſchrieben haben, iſt Ziel. Auf der dritten lieſt der Schü- 
lex nicht bloß für ſim, ſondern auch für Andere, er ſucht 
die in ſich aufgenommenen Vorſtellungen angemeſſen und 
ſchön mitzutheilen. Dieſe drei Aufgaben vertheilen ſich aber 
nicht nach Lebens - und Schuljahren. Schon bet den erſten 
Schritten mengt ſich die zweite und dritte in die vorherr- 
ſchende erſte ein. Während das Kind no< ſeine Aufmerk- 
ſamfeit auf die Umſetzung der Scriftzeichen in Laute zu 
richten hat, ſucht es doh auch ſchon zu verſtehen , und ver- 
ſteht. es nicht augenblilich , ſo gelingt es ihm doch bei der 
Wiederholung, wo jene erſte Anſtrengung nachläßt. Und - 
während es die Zeichen in Laute verwandelt, ſoll es dieſe 
Laute auch ſchön hervorbringen , nicht wie es in der häus- 
lichen Sprache gewohnt iſt, ſondern wie gebildeie Menſchen, 
und insbeſondere ſein Lehrer, vorſprechen. „So ſoll alſo 
gleich von Anfang richtig, verſiändig und ſchön geleſen wer- 
den. Sobald einer dieſer Zielpunkte vernachläſſigt wird , 
ſeven ſich ſc<liwmme Gewohnheiten veſt, welche „nur mit 
Mühe wieder weggeräumt werden können. Allein gleiche 
wohl muß die Aufgabe überall nur den Kräften des Kin- 
des angemeſſen, die Stufen müſſen pädagogiſch geordnet 
ein. | N 
' So leicht dieß geſagt iſt, ſo ſchwer iſt es auszuſühren. 
Soviel täglich über Pädagogik geſchrieben wird, und ſo
	        
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