Full text: Allgemeine Schulzeitung - 21.1844 (21)

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Dieß ſind von ungefähr die Anſichten unſeres Päda- 
gogen von der <hriſtilich- religiöſen Bildung der Jugend, 
und der unbefangene Theil des pädagogiſchen Publifums 
wiry denſelben gemäß ſeinen Beifall nicht verſagen. 
Dabei geht Dr. Dieſterweg von dem Grundſaße aus, 
daß ver Menſch müſſe vor allen Dingen zum Selbſibewußts- 
ſein , d. h. Bewußtſein ſeines inneren Menſchen, gebracht 
werden. Er verwirft mit ſo vielen anderen Pädagogilern, 
und ſelbſt theologiſch - gebildeten , und mitunter fir<gläu- 
bigen , 3. B. Niemeyer , Schwarz, Dinter, Denzel , Har- 
niich u. ſ. w., das theologiſhe Dogma, daß der Menſch 
durchaus unfähig zu allem wahren Guten, ohne die Hülfe 
- eines höheren Beiſiandes, ſei *). Geſtüßt auf Beobach- 
fung und Erfahrung kann er nicht glauben, daß die Sünde 
könne den Menſchen ſo tief heruntergeſeßt und ſo ganz 
verunſtaltet haben, Wenn er auch ein armer Sünder und 
ein ewig irrender und ſtrauchelnder Menſc< geworden ſei, 
ſo fehle ihm do< das Vermögen uoch niht, das Gute und 
Wahre zu erkennen zu wollen **). Er habe neben böſen 
Trieben gute, edle und ſchöne, und hinter der thieriſchen 
Hülle liege verſte>t das göttliche Bewußtſein jeiner inne- 
ren Würde, ohne deſſen Vorausſeßung Tugend und Reli- 
gion bei uns unbefannte Dinge wären, ! 
ab den Hang zur Sinnlichkeit durc< Lehre, Zucht und Bei- 
ſpiel , ſo verkehre ſim die Natur, und der Menſch wende 
ſich dem Reiche des ewig Wahren, Guten und Schönen und 
dem Gottesreiche zu. Durch Beſinnung und eignen, freien 
Entſchluß und durch Selbſtüberwindung, aber nicht durch Ein- 
wirkung von oben her werde der Menſch ſeiner Thierheit 
entriſſen. Selbſterkenntniß ſei die Wurzel alles wahrhaf- 
ten Lebens, ohne Beſinnung könne kein Glaube, keine 
Reue, Buße und Beſſerung möglich ſein. Der Menſch 
müſſe des Schönen , Guten und Wahren inne ſein, wenn 
er die Wahrheit erkennen lernen ſoll, die ſich ihm in Chriſto 
Jeſu offenbart, Selbfterkenntniß ſei alſo das Ziel, nach 
dem wir hier ſtreben müſſen. Eine unendliche Kraft, eine 
Kraft Gottes ſchlummert in uns. Wir ſind. Gottes Tem- 
pel, in uns wohnt Gottes Geiſt, Wie Unwiſſenheit und 
Bosheit den Menſchen ewig an die kalte und leere Erd- 
ſcholle feſſele und ohne ein Wunder der Allmacht eine Er- 
leuchtung von oben nicht auffommen laſſe, ſo trage eige- 
nes Bewußtſein und die Beſonnenheit den Fackelſchein hin- 
über in das Dunkle und Myſtiſche der Religion, und auf 
dem Fittige eigener Ueberzeugung ſchwinge ſich der Geiſt 
hinauf zu den Sternen, wo Licht, Wahrheit und Gnade 
throne. Uebrigens zeigen ja au< Menſchen mit dem klar- 
ſien, d. h. geläuterten Bewußtſein die tiefſte Retkigiöſität 
und einen unerſchütterlihen Glauben. 
Hier wird Dr. Dieſterweg gewiß jeder Pädagoge bet- 
ſtimmen müſſen. Denn Religion und Chriftenthum feßt bei 
dem Menſchen nothwendiger Weiſe deſſen eigene geiſtige 
„udnäieſhenmen. 
*) Gal. 15, 17. = Röm« T, 18. 19, + 
**) „Der Menſch -- ſagt Kant in ſeiner Pädagogik =- „iſt von 
Natur weder morgliſch gut, noh böſe, denn er iſt von Natur 
gar kein moraliſches Weſen, Man kann indeß ſagen, daß er 
urſprüngli<g Anreize zu allen Laſtern in ſich habe , denn er hat 
Neigungen und Inſtinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die 
Vernunft zum Gegentheile treibt, Er kann nur moraliſch gut wer- 
den durc Tugend, alſo aus Selbſtzwang, aber glei? obne 
Anreize unſchuldig fein kann“, | 
 
Brechen wir ihm- 
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Receptibilität und Spontaneität oder vielmehr --- mgan 
ſioße ſich nur niht an dem Ausdrucke -- eine vernünft- 
gemäße Ausbildung voraus, weil bei uns das Gottesbe- 
wußtſein keine Inſptration ſein kann, ſondern ein unmit- 
telbar aus der menſchlichen Natur hervorgehendes iſt. Dem 
Mangel dieſer geiſtigen und moraliſchen Tüchtigkeit bei 
ſo vielen Menſchen muß es zugeſchrieben werden , daß das 
Chriſtenthum bei uns ein angenehmes Außen - und Neben- 
werf geblieben und ein Denkmal der inneren Verwerflich- 
feit, der Sünde und Bosheit geworden iſt. Vernunft iſt 
freilich heutigen Tages ein Schreckenswort geworden, weil 
wir leider ! ſo ſchwach organiſirt ſind, daß wir mit jedem 
-Bannſtrahle der Kirche den Todesſtih in unſerer Bruß 
fühlen möchten, Allein wenn man das Wort des alten 
Weiſen beherzigt: Homo sum, humani nil a me alienum 
puto, ſo wird man unumwunden bekennen müſſen , daß, 
wie oft wir auch die Vernunft läugnen, wir doch das Be» 
wußtſein oder das Inneſein , daß wir unſere eigene Ver- 
nunft zu Rathe ziehen , ſchlechterdings nicht läagnen können. 
Denn es iſt Nichts, als die Vernunft, die uns Gefühle 
und Gedanken eingibt und mittels der Gefühle oder We» 
danken Ueberzeugung und Glauben hervorruft, und die uns 
unſere Sache, wir mochten dieſelbe klar oder dunkel ge- 
dacht hoben , vertheidigen läßt. Es ift unläugbar , daß, 
ſolange Menſchen exiftiren , die Vernunft, als der weſent- 
li<fte Charakter derſelben, fowohl bei den Rationaliſten, 
als bei den Orthodoxen ihre Perſönlichkeit und in zweifel» 
haften Fällen ihre Stimme und Vollmacht behaupte. Die 
Vernunft iſt unzertrennlich von dem Glanben --- denn wo- 
her anders wiſſen ſelbſt die Supernaturaliſten , daß nur 
in der Offenbarung und nicht in der vermittelten Erkennt- 
niß die Wahrheit liege, als aus der Ueberlegung und 
eigenem Vernunftgefühl 9? --- und der größere oder gerin- 
gere innere Gehalt der Vernunftthätigkeit drückt unſerem 
Glauben eigenthümliche (individuelle) Farben auf. Nicht 
ſowohl ihr eigenes Weſen, als vielmehr der arge Miß- 
brauch der Vernunft bei den Einzeken hat ſie in übeln Ruf 
und Mißcredit gebracht *), aber dieſe Zufälligkeit kann uns 
überall nicht berechtigen, ſie aus ihrem Rechte zu ftoßen. - 
Der Menſc< könne Vernunft und Sprache nicht aufgeben. 
ohne daß er zugleich aufhört , Menſch zu ſein. Man ver- 
ſage uns Vernunft und Sprache, und wir ſind auf dem 
Wege, Gott und unſeren Herrn Jeſum Chrifſium zu verlaſſe. 
(Beſ<luß folgt.) 
== == "rere gurt" AUEN REITEN, eemmnnnmmen mo um 
.. 
Sc<hul<hrontik und MiSscelken. 
Großbritannien. Im Hauſe der Gemeinen 
war der Hauptgegenſtand der Verhandlung die öffentliche 
Erziehung, Die Verhandlung über die öffentliche Erziehung 
hatte eine Art Einleitung in einer Motion der Hrn. Ewart, 
welche den Mangel an öffentlichen Bibliotheken, als einem 
ſehr weſentlichen Mittel der Volksbildung, rügte, wobei er 
anführte, England ſtehe in dieſer Hinſicht hinter Deutſch- 
land und Frankreich, ja, hinter Rußland zurü. Lord 
Howi> gab ihm in der Hauptſache Recht, glaudte aber, 
&) Darauf ſc<heint wohl. die Ermahnung des Apoſtels Paulus, 
daß die Vernunft folle „gefangen genommen werden“, eine Anz: 
fpiekung zu haben, 

	        
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