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Dieß ſind von ungefähr die Anſichten unſeres Päda-
gogen von der <hriſtilich- religiöſen Bildung der Jugend,
und der unbefangene Theil des pädagogiſchen Publifums
wiry denſelben gemäß ſeinen Beifall nicht verſagen.
Dabei geht Dr. Dieſterweg von dem Grundſaße aus,
daß ver Menſch müſſe vor allen Dingen zum Selbſibewußts-
ſein , d. h. Bewußtſein ſeines inneren Menſchen, gebracht
werden. Er verwirft mit ſo vielen anderen Pädagogilern,
und ſelbſt theologiſch - gebildeten , und mitunter fir<gläu-
bigen , 3. B. Niemeyer , Schwarz, Dinter, Denzel , Har-
niich u. ſ. w., das theologiſhe Dogma, daß der Menſch
durchaus unfähig zu allem wahren Guten, ohne die Hülfe
- eines höheren Beiſiandes, ſei *). Geſtüßt auf Beobach-
fung und Erfahrung kann er nicht glauben, daß die Sünde
könne den Menſchen ſo tief heruntergeſeßt und ſo ganz
verunſtaltet haben, Wenn er auch ein armer Sünder und
ein ewig irrender und ſtrauchelnder Menſc< geworden ſei,
ſo fehle ihm do< das Vermögen uoch niht, das Gute und
Wahre zu erkennen zu wollen **). Er habe neben böſen
Trieben gute, edle und ſchöne, und hinter der thieriſchen
Hülle liege verſte>t das göttliche Bewußtſein jeiner inne-
ren Würde, ohne deſſen Vorausſeßung Tugend und Reli-
gion bei uns unbefannte Dinge wären, !
ab den Hang zur Sinnlichkeit durc< Lehre, Zucht und Bei-
ſpiel , ſo verkehre ſim die Natur, und der Menſch wende
ſich dem Reiche des ewig Wahren, Guten und Schönen und
dem Gottesreiche zu. Durch Beſinnung und eignen, freien
Entſchluß und durch Selbſtüberwindung, aber nicht durch Ein-
wirkung von oben her werde der Menſch ſeiner Thierheit
entriſſen. Selbſterkenntniß ſei die Wurzel alles wahrhaf-
ten Lebens, ohne Beſinnung könne kein Glaube, keine
Reue, Buße und Beſſerung möglich ſein. Der Menſch
müſſe des Schönen , Guten und Wahren inne ſein, wenn
er die Wahrheit erkennen lernen ſoll, die ſich ihm in Chriſto
Jeſu offenbart, Selbfterkenntniß ſei alſo das Ziel, nach
dem wir hier ſtreben müſſen. Eine unendliche Kraft, eine
Kraft Gottes ſchlummert in uns. Wir ſind. Gottes Tem-
pel, in uns wohnt Gottes Geiſt, Wie Unwiſſenheit und
Bosheit den Menſchen ewig an die kalte und leere Erd-
ſcholle feſſele und ohne ein Wunder der Allmacht eine Er-
leuchtung von oben nicht auffommen laſſe, ſo trage eige-
nes Bewußtſein und die Beſonnenheit den Fackelſchein hin-
über in das Dunkle und Myſtiſche der Religion, und auf
dem Fittige eigener Ueberzeugung ſchwinge ſich der Geiſt
hinauf zu den Sternen, wo Licht, Wahrheit und Gnade
throne. Uebrigens zeigen ja au< Menſchen mit dem klar-
ſien, d. h. geläuterten Bewußtſein die tiefſte Retkigiöſität
und einen unerſchütterlihen Glauben.
Hier wird Dr. Dieſterweg gewiß jeder Pädagoge bet-
ſtimmen müſſen. Denn Religion und Chriftenthum feßt bei
dem Menſchen nothwendiger Weiſe deſſen eigene geiſtige
„udnäieſhenmen.
*) Gal. 15, 17. = Röm« T, 18. 19, +
**) „Der Menſch -- ſagt Kant in ſeiner Pädagogik =- „iſt von
Natur weder morgliſch gut, noh böſe, denn er iſt von Natur
gar kein moraliſches Weſen, Man kann indeß ſagen, daß er
urſprüngli<g Anreize zu allen Laſtern in ſich habe , denn er hat
Neigungen und Inſtinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die
Vernunft zum Gegentheile treibt, Er kann nur moraliſch gut wer-
den durc Tugend, alſo aus Selbſtzwang, aber glei? obne
Anreize unſchuldig fein kann“, |
Brechen wir ihm-
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Receptibilität und Spontaneität oder vielmehr --- mgan
ſioße ſich nur niht an dem Ausdrucke -- eine vernünft-
gemäße Ausbildung voraus, weil bei uns das Gottesbe-
wußtſein keine Inſptration ſein kann, ſondern ein unmit-
telbar aus der menſchlichen Natur hervorgehendes iſt. Dem
Mangel dieſer geiſtigen und moraliſchen Tüchtigkeit bei
ſo vielen Menſchen muß es zugeſchrieben werden , daß das
Chriſtenthum bei uns ein angenehmes Außen - und Neben-
werf geblieben und ein Denkmal der inneren Verwerflich-
feit, der Sünde und Bosheit geworden iſt. Vernunft iſt
freilich heutigen Tages ein Schreckenswort geworden, weil
wir leider ! ſo ſchwach organiſirt ſind, daß wir mit jedem
-Bannſtrahle der Kirche den Todesſtih in unſerer Bruß
fühlen möchten, Allein wenn man das Wort des alten
Weiſen beherzigt: Homo sum, humani nil a me alienum
puto, ſo wird man unumwunden bekennen müſſen , daß,
wie oft wir auch die Vernunft läugnen, wir doch das Be»
wußtſein oder das Inneſein , daß wir unſere eigene Ver-
nunft zu Rathe ziehen , ſchlechterdings nicht läagnen können.
Denn es iſt Nichts, als die Vernunft, die uns Gefühle
und Gedanken eingibt und mittels der Gefühle oder We»
danken Ueberzeugung und Glauben hervorruft, und die uns
unſere Sache, wir mochten dieſelbe klar oder dunkel ge-
dacht hoben , vertheidigen läßt. Es ift unläugbar , daß,
ſolange Menſchen exiftiren , die Vernunft, als der weſent-
li<fte Charakter derſelben, fowohl bei den Rationaliſten,
als bei den Orthodoxen ihre Perſönlichkeit und in zweifel»
haften Fällen ihre Stimme und Vollmacht behaupte. Die
Vernunft iſt unzertrennlich von dem Glanben --- denn wo-
her anders wiſſen ſelbſt die Supernaturaliſten , daß nur
in der Offenbarung und nicht in der vermittelten Erkennt-
niß die Wahrheit liege, als aus der Ueberlegung und
eigenem Vernunftgefühl 9? --- und der größere oder gerin-
gere innere Gehalt der Vernunftthätigkeit drückt unſerem
Glauben eigenthümliche (individuelle) Farben auf. Nicht
ſowohl ihr eigenes Weſen, als vielmehr der arge Miß-
brauch der Vernunft bei den Einzeken hat ſie in übeln Ruf
und Mißcredit gebracht *), aber dieſe Zufälligkeit kann uns
überall nicht berechtigen, ſie aus ihrem Rechte zu ftoßen. -
Der Menſc< könne Vernunft und Sprache nicht aufgeben.
ohne daß er zugleich aufhört , Menſch zu ſein. Man ver-
ſage uns Vernunft und Sprache, und wir ſind auf dem
Wege, Gott und unſeren Herrn Jeſum Chrifſium zu verlaſſe.
(Beſ<luß folgt.)
== == "rere gurt" AUEN REITEN, eemmnnnmmen mo um
..
Sc<hul<hrontik und MiSscelken.
Großbritannien. Im Hauſe der Gemeinen
war der Hauptgegenſtand der Verhandlung die öffentliche
Erziehung, Die Verhandlung über die öffentliche Erziehung
hatte eine Art Einleitung in einer Motion der Hrn. Ewart,
welche den Mangel an öffentlichen Bibliotheken, als einem
ſehr weſentlichen Mittel der Volksbildung, rügte, wobei er
anführte, England ſtehe in dieſer Hinſicht hinter Deutſch-
land und Frankreich, ja, hinter Rußland zurü. Lord
Howi> gab ihm in der Hauptſache Recht, glaudte aber,
&) Darauf ſc<heint wohl. die Ermahnung des Apoſtels Paulus,
daß die Vernunft folle „gefangen genommen werden“, eine Anz:
fpiekung zu haben,