Full text: Arbeiter-Jugend - 3.1911 (3)

 
 
  
. Erſcheint alle 14 Tage. 
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Abonnement vierteljährlich 50 Pfennig. 
Eingetragen in die Poſt-Zeitungsliſte 
Berlin, 26. Auguſt 
 
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer G, m. b. H., Lindenſtraße 69. Alle Zu- 
ichriften für die Redaktion ſind zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68 
1911 
 
Zur Lage der Iugendlichen im Handel. - 
M) 16 jugendlichen Angeſtellten im Handel werden durchweg 
) 5 „Lehrlinge“ genannt. E3 dürfte kaum vorkommen, daß ein 
junger Menſc<, der Kaufmann werden ſoll, ander8 denn al3 
Tehrling im Geſchäft aufgenommen wird. - . 
Ein Lehrling ſoll bekanntlich lernen; das iſt der Zwe, 
weShalb die jungen Leute ins Geſchäft gehen. Niemand faßt die 
Sache ander3 auf, weder der Lehrling ſelbſt und ſeine Eltern, 
119% der Brinzipal, no< auch der Geſeßgeber. Im Gegenteil, das 
voutſche Sandel3geſeßbuch legt (in ſeinem 8 76) ausdrücklic<h die 
Verpflichtung des „Lehrherrn“ feſt, dafür zu ſorgen, „daß der 
Lehrling in den bei dem Betriebe ves Geſchäft38 vorkommenden 
fiufmänniſchen Arbeiten unterwieſen wird“. Der Prinzipal joll 
das entweder ſelbſt beſorgen oder einen geeigneten Vertreter dazu 
beſtimmen. Auch ſoll die Unterweiſung „in der durch den Zweck 
der Ausbildung gebotenen Reihenfolge und Ausdehnung“ geſchehen. 
Wer das hört und dieſe Dinge au8 praktiſcher Erfahrung nicht 
ſinnt, muß glauben, daß dem Kaufmannslehrling eine geradezu 
idcale Fürſorge gewidmet wird. Er wird es ſich ſo vorſtellen, daß 
der Lehrling von ſeinem Prinzipal der Reihe nach in die ver- 
ſctedenen Zweige des Geſchäfts eingeführt und in jedem einige 
Wonate beſchäftigt wird, jo daß er alle gründlich kennen lernt und 
ain Ende ſeiner drei Jahre, wenn auch nicht gerade als fertiger 
GCroßkfaufmann daſteht, ſo do<; mit einem Grundſto> von kauf- 
nänniſchem Wiſſen ausgerüſtet iſt, der ihn inſtandſetßt, das Ge- 
triebe eines Geſchäfts zu überſehen und nunmehr Tüctige3s zu 
leiſten. Leider ſieht es in der Praxi3 ganz ander3 aus. Troß der all- 
ccmeinen Uebereinſtimmung über den Zwe> der Lehre und troß 
ver geſeßlichen Vorſchriften wollen ſeit 15-20 Jahren die Klagen 
darüber kein Ende nehmen, daß die Ausbildung der Kaufmann8- 
 
legrlinge mangelhaft "iſt und immer mangelhafter wird. : Und 
zwar kommen dieſe Klagen von allen Seiten, nicht etwa bloß von 
den böſen Sozialdemokraten. 
antiſemitiſchen Handlung8gehilfenverein, auf deſſen Verbands8tag 
lait erklärt wurde: „Alljährlich werden Tauſende von fogenannten 
Lehrlingen zu Hausknechtsarbeiten verwandt. 
laifen alljährli<h Tauſende von jungen Leuten die Lehre, in der 
ſie nichts gelernt haben.“ Da gibt e8 einen weiteren Verband, der 
auf liberalem Boden ſteht und ſic< wie folgt vernehmen läßt: 
„Ler Lehrling arbeitet drei Jahre ohne den nötigen Ernſt, denn - 
wcil er ſo ſchlecht bezahlt wird, fühlt er ſich nicht verpflichtet, das 
zu leiſten, was er leiſten könnte; und wa3 er leiſtet, iſt immer 
no) zu viel für das, was ihm al8 Gehalt bezahlt wird. Für 
ſeine Ausbildung intereſſiert man ſich nur ſoweit, al8 man ihn in 
Arveiten einweiht, für die man ihn verwenden will.“ Und ebenſo 
Jagt ein (liberaler) Verein für weibliche Handel8angeſtellte, daß 
„der Lehrling im Geſchäft bei weitem nicht das lernt, was er 
als Kaufmann nötig hat,“ weil die Lehrlinge „meiſt mit mechani- 
| Gen Arbeiten ausgenußt werden“. | 
Doch au< die Prinzipale ſind derſelben Anſicht. E3 exiſtiert 
m Deutſchland ein Verband für das kaufmänniſche Unterricht3- 
veien, der hauptſächlich aus Geſchäft3inhabern, daneben aus 
Recht8anwälten, Lehrern uſw. beſteht. Auf deſſen Tagung ſagte 
vor ein paar Jahren der Berliner Kommerzienrat Liſſauer, daß 
heutzutage der Prinzipal „nicht mehr die Muße hat, unterrichtend 
auf den Lehrling zu wirken,“ und daß infolgedeſſen die Aus- 
vildung des Lehrling38 „meiſt unvollkommen abſchließt, weil ihm 
| meiſt medhanijc<e Beſchäftigungen zugewieſen wurden, bei denen 
Da gibt e8 zum Beiſpiel einen- 
No< immer ver- 
-." 
oben erwähnten 8 76 de38 Handels8geſeßbuch3). 
er ſeine Pflicht tut, ohne tiefer in das kaufmänniſche Können ein- 
zudringen.“ Und das iſt nur eine unter vielen Stimmen; auch die 
Prinzipale und ihre Sachwalter, ſoweit ſie ſich über den Gegen- 
ſtand geäußert haben, ſtimmen vollkommen mit dem Kommerzien- 
rat Liſſauer überein. 
E3 bedarf keines Beweiſes, daß dieſer Zuſtand eine Ichwere2 
Schädigung der Lehrlinge für ihr ganze3 Leben bedeutet. Iſt es 
doch eine betrübende, aber leider unbeſtreitbare Tatſache, daß die 
allermeiſten jungen Kaufleute, ſobald ihre Lehrzeit um iſt, zwar 
als „auSsgelernt“ erklärt, aber von ihren Lehrherren nicht weiter 
beſchäftigt werden. Stait deſſen werden neue ſfogenannte Lehr- 
linge eingeſtellt, wie ſie eben von der Schule kommen, und die 
„AuSgelernten“ haben ihre liebe Not, irgendwo eine, wenn aud. 
noch ſo ſchlecht bezahlte Stelle zu finden. Dadurch drücken ſie 
natürlich wieder auf die Löhne der älteren Gehilfen, und dies 
it einer der Gründe, we38halb unter den Angeſtellten im Handel 
heute noh häufig Zuſtände herrſchen, die ſich ein organiſierter 
Arbeiter ſhon lange nicht mehr gefallen laſjen wurde. 
Natürlich ſind ſhon mancherlei Vorſchläge laut geworden, wie 
dieſem betrübenden Zuſtande abzuhelfen ſei. Von einer Seite hat 
man die Fortbildung8ſ<ule als Mittel der Abhilfe emp- 
fohlen. Nun iſt die Fortbildung3ſ<hule gewiß eine jegenösreiche 
Einrichtung. Zwar joll man ſich darüber nicht täuic<en, daß ie 
immer, auch im beſten Falle, nur ein Notbehelf iit. In einem ver- 
nünftig geordneten Gemeinweſen würde man die allgemeine Lolk3- 
ſchule ganz ander3 einrichten, jo daß ſie bedeutend mehr leiſtet, 
und man würde auc< niht die Kinder ſchon mit vierzehn Jahren 
au8 der Schule reißen und in8 Leben hinausttioßen, alfo zu einer. 
Zeit, wo ſie eine abgeſchloſſene allgemeine Bildung, die ja doch die 
Grundlage jeder beſonderen Berufsſtellung -ſein : muß, noch -gar- 
nächt haben können. Im günſtigſten Falle känn der Lehrling 
wöchentlich ſe<38 bi8 a<t Stunden für die Fortbildungsihule 
erübrigen. Und in den paar, neben der ermüdenden TageSarbeit 
eingeſ<obenen Stunden ſoll das nachgeholt werden, was die 
Schule in ac<t Jahren, wa3 die Lehre in drei Jahren nicht leiſten 
können, obwohl ſie doch über die ganze Zeit des Schülers verfügen? 
So etwa3 zu glauben, iſt blanke Torheit. 
Da iſt denn nun von anderer Seite der Vorſchlag gemacht 
worden, die Zahl der Handelslehrlinge einzuſchränken und dur<h 
einen Lehrkontrakt eine ordentliche berufsmäßige Ausbildung zu 
ſichern. Das klingt ganz vernünftig. Da jeder Lehrling von einem 
erwachſenen Handlungs8befliſſenen aus8gebildet werden muß, ſoll der 
Prinzipal geſeßlich gezwungen werden, auf jeden erwachſenen An- 
geſtellten nicht mehr al38 zwei oder drei Lehrlinge zu halten. = 
Aber wenn er nun nach wie vor junge Menſ<<en, die eben von 
der Schule kommen, in unbegrenzter Anzahl anſtellt, nur daß er 
ſie niht mehr Lehrlinge nennt? Dann iſt die ſ<öne Beſtim- 
mung umgangen, und e3 bleibt alles wie zuvor. 
Damit erledigt ſih auch der famoie „Lehrkontrakt“. 
Ueberdies kann man in einen ſolchen Kontrakt doch immer nur 
dasſelbe hineinſ<hreiben, was ſchon im Geſet ſteht (nämlich in dem 
Wenn aber da3 
Geſeß, da38 ſogar (im 8 82) Strafen androht, die Prinzipale nicht 
zu einer ſorgſamen AusSbildung hat zwingen können, dann wird 
ein privater Lehrkontrakt das wohl auc<h nicht zuwege bringen. 
Es nüßt eben nicht3: will man ein Uebel wirkſam bekämpfen, 
jo muß man ſich zunächſt über ſeine Urſachen klar werden. Und 
da hilft uns nun eine nähere Betrachtung de8 Geſekße3 gut auf den 
Weg. 

	        
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