Full text: Arbeiter-Jugend - 10.1918 (10)

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beſonderen volkswirtſc<aftlihen Kurſen geſchult. Vor allem aber 
ſoll auf der Arbeitsſtelle ein Shuß- und Trußbündni3 zwi- 
ichen Jüngling3vereinlern und <hriſtlichen Gewerkſchaftlern ge- 
ſchloſſen werden. Man will dem Einfluß der älteren ſozialdemo- 
fratiſchey Arbeiter auf die Jugend entgegenarbeiten. 
In diejem Wettbewerb um die gewerkſchaftliche Organiſierun 
unjerer jungen Arbeiter und Arbeiterinnen muß ſic< die Freie 
Jugend, die doch einen Vortrupp der Arbeiterjugend bilden will, 
beſonder3 auszeichnen. Jugendlich ungeſtüm, iſt mancher von uns 
nicht zufrieden mit dem, was die „Alten“ bisher geleiſtet haben. 
Er ſteht nur die Unvollkommenheit der beſtehenden Organiſationen, 
verkennt aber die gewaltige Arbeit, die nötig war, um innerhal9 
weniger Jahrzehnte auch nur dieſe3 Ziel zu erreichen. Lege darum 
jeder und jede ſelber Hand ans Werk! Mit großen Worten und 
mit kleinlichem Nörgeln iſt nicht8 getan. Der Klaſſenkampf, den 
ſo viele gern im Munde führen, iſt keine Phraſe, ſondern harte 
Wirklichkeit; es iſt der Widerſtreit zwiſchen kapitaliſtiſchen und Ar- 
beiterintereſſen. Auf jeder Seite entſcheidet die größere oder ge- 
ringere Macht, die im Kampf eingeſcht werden kann. Die Macht 
der Arbeiterklaſſe aber ſind ihre feſtgefügten Maſſenorganiſationen. 
Je einheitlicher die Gewerkſchaften find und je mehr von den 
Klaſſengenoſſen ſie umſchließen, deſto wirkſamer können fie ſich 
für die Arbeiter einſetzen. . 
Die Arbeiter im ManneZSalter ſtehen in ihrex Mehrheit unter 
ven Waffen. Um ſo notwendiger iſt der Zuſtrom unſerer Jugend 
zu den Gewerkſchaften. Mag ſein, daß jeder, der dies lieſt, ſchon 
gewerkſchaftlich organiſiert iſt. Doch genügt dies nicht. Solange 
noch einer im Freundeskreiſe oder in der „Bude“ den Gewerkſchaften 
jernſteht, muß überzeugt und geworben werden, oo 
W. Sollmann. 
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Nactllied. 
Quellende, ſchwellende Nacht, 
Voll von Lichtern und Sternen: 
In den ewigen Fernen, 
Sage, was iſt da erwacht! 
Herz in der Bruſt wird beengt, 
Steigendes, neigendes Leben, 
Rieſenhaft fühle ich's weben, 
- Welches das meine verdrängt. 
Schlaf, da nahſt du dich leis, 
- Wie dem Kinde die Amme, 
Und um die dürftige Flamme 
Ziehſt du den ſchüßenden Kreis. < 
Friedrich Hebbel. 
 
Arbeiter-Jugend | - 
Franz Mehrings Marx-Biogrophie. 
u Marxens8 hundertſtem Geburt8tag hat die ruſſiſche Sowjet- 
regierung den Grundſtein zu einem Ständbild von Marx 
gelegt und eine Straße nach jeinem Namen genannt, Deutſch- 
land hat dieſes Buch*) geſtiftet. Auch abgeſehen von der Unſicher- 
heit aller ruſſiſchen Dinge, iſt von vornherein gar kein Zweifel 
geſtattet, welches Denkmal dauerhafter ſein wird, jenes Marmor- oder 
Erzbild der Ruſſen, oder dieſes Buch de3 Deutſchen. „Marx wird 
zu allererſt in jeinen Werken leben,“ ſagt ihr. In der Tat =-, 
aber das „Kapital“ beiſpiel3weiſe iſt ja nicht, wie etwa der Fauſt 
oder die Vernunftkritik, eine Geiſte8tat, durc< die ſich ein jc<öpfe- 
riſcher Wille in den Grenzen, die er ſich ſelbſt geſte>t, reſtlos aU8- 
wirkt --, das „Kapital“ iſt die Loſung einer neuen Welt, dic ſich in 
ſeinen Säßen ankündigt, iſt dieſe Welt ſelber, die ſich im Reich der 
Jdeon durchſeßt, ehe ſie in der Wirklichkeit Geſtalt gewinnt. Ein 
Werk, das ſo weit über ſid) ſelbſt und ſeinen unmittelbaren Inhalt 
hinausweiſt, bedarf in ganz anderem Sinn als jene dunklen Bücher 
Goethe38 oder Kant3 der Deuter und Ausleger, bedarf eines voll- 
ſtändigen Generalſtabs von kongenialen Mitarbeitern, die ieinen 
Gehalt ausſhöpfen und damit zugleich die Armeen für den Er- 
oberungszug ſeiner Jdeen werben und einexerzieren. Marx war 
ja auch nicht bkoß der Begründer des wiſſenſchaftlichen Soziali3mus, 
der Voraus8denker der kommenden Welt- und Geſellſchafts5ordnung, 
er war in Perſon ſchon der Feldherr ſeines Welteroberungs- 
gedanken8. Und wenn er auch nicht die Leiber von Millionen in3 
JFouer gejagt hat: auch ſeine Heere, die unabſehbaren Scharen, 
deren Wille und Geiſt er in Bewegung jekt, find nur nach den 
unerhörten Au8maßen dieſes Weltkriegs abzuſchäßen. 
Aber auch in ganz wörtlichem Sinn hat Marx Geſchichte ge- 
macht und unmittelbar in das Weltgeſchehen eingegriffen, als 
Organiſator der erſten Bataillone jener auf ſeine Parole ein- 
geſc<hworenen Arbeiterheere. Der Mann der Geſchichte aber bedarf - 
des Hiſtoriker8, der ſeine Taten kündet. Jſoliert ſteht ja kein 
Menſch im Fluſſe des Geſchehens, und rage er noch jo hoh in ſeiner - 
Zeit. Seine Leiſtung iſt die Wirkung von Urſachen und weiſt als 
jolche in die Vergangenheit, und ſie iſt ihrerſeits die Urjache von 
Wirkungen, die ſich in die Zukunft fortſezen. Der Hiſtoriker hat 
ihr nach beiden Seiten hin nachzugehen. Einer Perjönlichkeit wie 
Marx gegenüber, deren Weſen zugleich in der Welt des Gedankens 
und in der Wirklichkeit des Geſchehens wurzelt, hat der Hiſtoriker 
dazu noch dieſe Aufgabe zweifach zu leiſten: er hat ſie in den 
geiſtigen und hat ſie in den politiſchen Zuſammenhängen an die 
richtige Stelle zu rücken. Der Hiſtoriker von Marx muß alſo in der 
Geiſte8sgeſchichte wie in der politiſchen Geſchichte ſeiner Zeit Be- 
jicheid wiſſen. 
Daß unter den heute lebenden Parteiſchriftſtellern allein 
Franz Mehring die Vorbedingungen dieſer Aufgabe erfüllt, 
ZN 
 
*) Karl Marx. Geſchichte ſeines Leiben8. Von Franz Mehring. Leip- 
zig 1918, Leipziger Buchdruckerei A.-G, 544 S. Preis broſch. 8 Mk., 
geb. 10 Mf, . 
 
 
 
 
Bie ich Sozialdemokrat wurde. 
- Jugenderinnerungen von R. Kempkens, 
nter Wewiſſenznöten hatte ich mich von dem mir zu Hauſe an- 
erzogenen und in der Schule mir weiter eingeflößten Kirchen- 
glauben freigemacht, Es waren Seelenkämpfe, wie ſie wohl nur 
der in der Welt des Katholizisumus Aufgewachſene nachempfinden kann, 
Dex Proteſtanti8mus hat ſeine Leute nicht ſo hypnotiſch in dex Gewalt, 
Meinen Kampf um die Weltanſchauung nach der religiöſen Seite habe 
icq in einer früheren Nummer der „Arbeiter-Jugend“ (Nr. 10 vom 
18, Mai) geſchildert. Im Anſchluß daran gedachte ich zu erzählen, wie 
ich Sozialdemokrat geworden bin, 
„Geworden“ bin? Bin ich denn nicht immer ſchon Sozialiſt ge- 
weſen? Kann der Proletarierſohn ander38 denken al38 ſozialiſtiſch; iſt 
nicht der Sozialismus für ihn das Selbſtverſtändliche? Nun hab' ich'2: 
Jh war niemals ein Gegner der Sozialdemokratie! 
Es war dazumal nicht ſo einfach wie heute, zur Sozialdemokratie 
zu fommen; denn was3 ich hier zu erzählen habe, beginnt in den beiden 
Tebten Jahren des Sozgialiſtengeſeßes, alſo Ende der achtziger Jahre, 
Gewiß wurde damals die Werbearbeit für unſere Gedankenwelt mit 
heiligem Eifer von Mund zu Mund betrieben; auch Agitationsſchriften 
gingen von Hand zu Hand. Aber alles mußte heimlich geſchehen, denn 
die Paxtei ſtand unter dem Ausnahmegeſe8s, das jeden Zuſammenſchluß 
unterſagte. Hinzukam, daß in der großen Eiſenbahnwagenfabrik, in 
der ich Lehrling war, jeder Sozialdemokrat, der ſich als ſolcher bemerk= 
bar machte, unweigerlich „gemaßregelt“ und ſein Entlaſſungsſchein mit 
einem Kennzeichen verſehen wurde, das dem auf die Straße Ges 
: worfenen alle anderen Betriebe des Kölner... Vegzirks verſchloß. Davon 
. abgeſehen aber wurde ich, der kaum Sechzehnjährige, von den älteren 
Genoſſen auch noch nicht al38 „reif“ befunden, um politiſch aufgeklärt 
daß ich es ohne fremden Beiſtand angefertigt hätte, 
zu werden. Verſammlungen waren durch das Schandgeſeßb verboten; 
von den wenigen ſozialiſtiſchen. Wochenblättern kam mir keins zu Geſicht. 
Was ich von der Sozialdemokratie wußte, ſtammte aus Bebel3 be- 
rühmtem Buch „Die Frau in der Gegenwart, Vergangenheit und Zu- 
Funft“, wie e3 damals hieß. . (Den heutigen Titel „Die Frau und der 
Soziali8mus“ durfte es erſt nach dem Fall des Ausnahmegeſeßes führen.) 
Jh las leidenſchaftlich gern. Jeder Groſchen „Sonntags8geld“ wurde 
in Meters Volk8büchern und Reclams3 . Univerſalbibliothek angelegt. 
I< kaufte mir nicht nur nach und nach eine große Reihe Klaſſiker- 
händen, ſondern auch Fichte, Kant, Schopenhauer uſw. Wenn ich vieles 
nicht verſtand, ſo betrachtete ich die Lektüre al8 „Gehirngymnaſtik“. 
Zum Leſen benußte ich jede freie Minute, beſonders die Abende und 
halben Nächte; körperliche Ermüdung blieb unbeachtet. Um an größere 
Bücher heranzufommen, trat i< einem Leſeklub bei, mußte aber ents 
de>en, daß ich in einen =- Vergnügungsverein hineingeraten war, 
Ich war jedoch nicht ſchüchtern, ſondern verlangte, daß dem Statut ent- 
ſprechend Bücher erworben und Vorleſungen mit anſchließender Aus- 
ſprache veranſtaltet würden. Jc< brachte auch ſelber Leſeſtoff mit und 
exbot midh), vorzuleſen. Darin hatte i< nämlich Uebung: war ich doch 
im lebten Schuljahr derjenige, der in der Klemenskirche zu Mülheim 
am Rhein allwöchentlich die ganze Schulmeſſe herunterbeten mußte. Aber 
die Herren vertröſteten mich und wählten mich zur Beſchwichtigung 
als Schriftführer. Als ich da3 erſte Protokoll verlas, bezweifelte man, 
Ich hatte nämlich - 
mit Hilfe meines kleinen Wörterbuchs (Preis 1 Mk.) allerlei fremd- 
ſprachigen „Schmud“, wie „inhibieren“, „inopportun“ uſw, hineinver=- 
wurſtet. Ueber derartige und verwandte Jugendeſeleien habe ich in 
ſpäteren: Jahren immer herzlich lachen müſſen, wenn ſie mir in den 
Sinn kamen. | 
Der Lefeklub, der in Wirklichfeit keiner war, hielt jeden Sonntag
	        
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