Full text: Arbeiter-Jugend - 15.1923 (15)

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gehörigen einer. Gruppe in ſeinen Bann, es beeinflußt ihr Denken 
und Fühlen, ihr Wollen und Handeln, es beſtimmt ihr Tun und Laſſen gegenüber 
anderen Gruppen. Auch hier ſind es beſonders die wirtſchaftlichen Lebensbedingungen, 
die Beſiß- und Eigentumsverhältniſſe, die Produktions- und Verteilungsweiſe, die 
am jtärkſten auf das ſoziale Bewußtſein einwirken. Daraus ergibt ſich die Folgerung, 
daß ſich das ſoziale Bewußtſein notwendigerweiſe verändern muß, wenn ſich die 
wirtſchaftlichen Verhältniſſe ändern. Hier ſtoßen wir auf den Kern der Theorie des 
ökonomiſchen Materialismus, der beſagt, daß das Tun und Laſſen 
der Menſchengruppen (nicht der einzelnen Menſchen!) im weſentlichen durch die 
wirtſchaftlichen Verhältniſſe beſtimmt, wenn nicht gar bedingt wird. Bei der Hand- 
lungsweiſe eines Einzelmenſchen ſprechen zweifellos auc< außerwirtſchaftliche Momente 
mit; Veranlagung, Charakter, Bildung und Erziehung wirken auf ihn ein; eine 
Menſchengruppe wird, wie die Geſchichte und die Erfahrung lehrt, im weſentlichen 
durch) ihr wirtſchaftliches Intereſſe beeinflußt. Die Wirtſchaftsweiſe wandelt, wenn ſie 
ſich ändert, auch das ſoziale Bewußtſein um: aus dem Solidarismus, dem Bewußtſein 
der Zuſammengebhörigkeit, entwickelte ſich im Altertum das Klaſſenbewußtſein; aus 
dieſem entſproß das mittelalterliche Standesbewußtſein, und dieſes hinwiederum hat 
ſich zuni modernen Klaſſenbewußtfein entwi>kelt. Auch das Rechts- und Pflicht- 
bewußtſein, der Staats- und Organiſationsgedanke, das Stammes- und Volks- 
bewußtſein, haben ſich fortwährend gewandelt, und ſo bewahrheitet ſich das Marx- 
wort, daß ſich der ſozialgeiſtige und rechttiche Ueberbau einer Geſellſchaft verſchiebt, 
wenn der wirtſchaftliche Unterbau verſchoben wird. 
Bliken wir in die Entwielungsgeſchichte der Menſchheit zurück, ſo finden wir, 
daß in der Urzeit die Menſchen in Gruppen zuſammenlebten, in denen wohl natür» 
liche Unterſchiede des Geſchlechts, des Alters, der Begabung, des Charakters uſw. 
beſtanden, in denen aber keine wirtſchaftlichen Gegenſätze vorhanden waren. Es 
beſtand das Gemeineigentum an allem dem, was ſeiner Natur nach zum 
Allgemeinbeſißz beſtimmt iſt: Grund und Boden, Feld und Wald, Wieſe und Teich, 
und an all den Dingen, die die Natur den Menſchen bietet: Erz und Kohle, Pflanzen 
und Tiere uſw. Allen war alles gemeinſam, jeder hatte ein Anrecht. auf 
Lebensunterhalt; er hatte aber auch die Pflicht, feine Arbeitskraft, ſeine körperlichen 
und geiſtigen Fähigkeiten, in den Dienſt der Gemeinſchaft zu ſbellen. In einer ſolchen 
Gruppe, in der eine Ausbeutung und Uebervorteilung des einen Menſchen durch den 
andern unmöglich war, konnte naturgemäß die Selbſtſucht, die Habgier, der Erwerbs5- 
trieb, der Wille zum Beſitz keinen Boden finden, es mußte ſich in vem Menſchen das 
Gefühl der Zuſammengehörigkeit entwi>keln. Die Menſchen, die demſelben Boden 
entſproſſen waren (8olidum heißt der Boden), pflegten den Solidarismus; ſie 
hielten wie Poch) und Schwefel zuſammen, jie halfen und unterſtüßten ſich in allen 
Wechſelfällen des Lebens, ſie teilten Freud und Leid miteinander. Noch heute finden 
wir Ueberbleibſel dieſes Solidarismus in dem Stammesbewußtſein, dem Gefühl der 
Landsmannſchaft, in der ſeeliſchen Verbindung von Menſchen, die miteinander ſym 
pathiſieren, weil ſie eine gemeinſame Heimat haben. Dieſes Gefühl verſlüchtet ſich 
immer mehr, je mehr ſich die kleinen Stammesgemeinſchaften zu Völkerſchaften ent- 
wickelten. In dem Maße, wie ſich der Internmationalismus verwirklicht, wird der 
auf dem Heimats- und BVaterlandsgefühl beruhende urſprüngliche Solidarismus 
verſchwinden. 
Im Laufe der Zeit vollzog ſich innerhalb der einzelnen Gruppen eine Klaſſen» 
ſcheidung, die Klaſſengegenjäte hervorrief. Wahrſcheinlic) wird dieſe Klaſſen- 
ſcheidung dadurc< entſtanden jein, daß man in den Kämpzen der: einzelnen Menichen-
	        
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