114 Arbeiter-Jugend
gehörigen einer. Gruppe in ſeinen Bann, es beeinflußt ihr Denken
und Fühlen, ihr Wollen und Handeln, es beſtimmt ihr Tun und Laſſen gegenüber
anderen Gruppen. Auch hier ſind es beſonders die wirtſchaftlichen Lebensbedingungen,
die Beſiß- und Eigentumsverhältniſſe, die Produktions- und Verteilungsweiſe, die
am jtärkſten auf das ſoziale Bewußtſein einwirken. Daraus ergibt ſich die Folgerung,
daß ſich das ſoziale Bewußtſein notwendigerweiſe verändern muß, wenn ſich die
wirtſchaftlichen Verhältniſſe ändern. Hier ſtoßen wir auf den Kern der Theorie des
ökonomiſchen Materialismus, der beſagt, daß das Tun und Laſſen
der Menſchengruppen (nicht der einzelnen Menſchen!) im weſentlichen durch die
wirtſchaftlichen Verhältniſſe beſtimmt, wenn nicht gar bedingt wird. Bei der Hand-
lungsweiſe eines Einzelmenſchen ſprechen zweifellos auc< außerwirtſchaftliche Momente
mit; Veranlagung, Charakter, Bildung und Erziehung wirken auf ihn ein; eine
Menſchengruppe wird, wie die Geſchichte und die Erfahrung lehrt, im weſentlichen
durch) ihr wirtſchaftliches Intereſſe beeinflußt. Die Wirtſchaftsweiſe wandelt, wenn ſie
ſich ändert, auch das ſoziale Bewußtſein um: aus dem Solidarismus, dem Bewußtſein
der Zuſammengebhörigkeit, entwickelte ſich im Altertum das Klaſſenbewußtſein; aus
dieſem entſproß das mittelalterliche Standesbewußtſein, und dieſes hinwiederum hat
ſich zuni modernen Klaſſenbewußtfein entwi>kelt. Auch das Rechts- und Pflicht-
bewußtſein, der Staats- und Organiſationsgedanke, das Stammes- und Volks-
bewußtſein, haben ſich fortwährend gewandelt, und ſo bewahrheitet ſich das Marx-
wort, daß ſich der ſozialgeiſtige und rechttiche Ueberbau einer Geſellſchaft verſchiebt,
wenn der wirtſchaftliche Unterbau verſchoben wird.
Bliken wir in die Entwielungsgeſchichte der Menſchheit zurück, ſo finden wir,
daß in der Urzeit die Menſchen in Gruppen zuſammenlebten, in denen wohl natür»
liche Unterſchiede des Geſchlechts, des Alters, der Begabung, des Charakters uſw.
beſtanden, in denen aber keine wirtſchaftlichen Gegenſätze vorhanden waren. Es
beſtand das Gemeineigentum an allem dem, was ſeiner Natur nach zum
Allgemeinbeſißz beſtimmt iſt: Grund und Boden, Feld und Wald, Wieſe und Teich,
und an all den Dingen, die die Natur den Menſchen bietet: Erz und Kohle, Pflanzen
und Tiere uſw. Allen war alles gemeinſam, jeder hatte ein Anrecht. auf
Lebensunterhalt; er hatte aber auch die Pflicht, feine Arbeitskraft, ſeine körperlichen
und geiſtigen Fähigkeiten, in den Dienſt der Gemeinſchaft zu ſbellen. In einer ſolchen
Gruppe, in der eine Ausbeutung und Uebervorteilung des einen Menſchen durch den
andern unmöglich war, konnte naturgemäß die Selbſtſucht, die Habgier, der Erwerbs5-
trieb, der Wille zum Beſitz keinen Boden finden, es mußte ſich in vem Menſchen das
Gefühl der Zuſammengehörigkeit entwi>keln. Die Menſchen, die demſelben Boden
entſproſſen waren (8olidum heißt der Boden), pflegten den Solidarismus; ſie
hielten wie Poch) und Schwefel zuſammen, jie halfen und unterſtüßten ſich in allen
Wechſelfällen des Lebens, ſie teilten Freud und Leid miteinander. Noch heute finden
wir Ueberbleibſel dieſes Solidarismus in dem Stammesbewußtſein, dem Gefühl der
Landsmannſchaft, in der ſeeliſchen Verbindung von Menſchen, die miteinander ſym
pathiſieren, weil ſie eine gemeinſame Heimat haben. Dieſes Gefühl verſlüchtet ſich
immer mehr, je mehr ſich die kleinen Stammesgemeinſchaften zu Völkerſchaften ent-
wickelten. In dem Maße, wie ſich der Internmationalismus verwirklicht, wird der
auf dem Heimats- und BVaterlandsgefühl beruhende urſprüngliche Solidarismus
verſchwinden.
Im Laufe der Zeit vollzog ſich innerhalb der einzelnen Gruppen eine Klaſſen»
ſcheidung, die Klaſſengegenjäte hervorrief. Wahrſcheinlic) wird dieſe Klaſſen-
ſcheidung dadurc< entſtanden jein, daß man in den Kämpzen der: einzelnen Menichen-