Full text: Arbeiter-Jugend - 22.1930 (22)

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ARBEITER-JUGEND NR. 5 
Als vor vierzig Jahren die Arbeiter in allen Ländern 
rüSteten, am 1. Mai für den Achtstundentag, iür 
den Arbeiterschutz zu demonstrieren, da mögen die 
Gewaltigen auf den TIhronen und MinisterSsesSeln und ihre 
Begnadeten, die BeherrScher der Fabriken, über den neuen 
Wahnwitz gelächelt haben. Im Vollgefühl ihrer Kraft und 
Macht konnten Sie auf die geknebelten MassSen verächtlich 
und hohnvoll herabschauen. Als dann aber am 1. Mai 1890 
die Arbeiter in den Fabrikstädten wirklich den Mut auf 
brachten, der Arbeit fernzubleiben und durch die Straßen 
zu marSchieren, da zuckte ein Erschrecken über das Gesicht 
der herrschenden Klasse. Und als gar die Meldungen kamen, 
daß nicht nur in Deutschland, nein, auch in Paris, in 
Petersburg, in Prag, in Brüssel und Wien und überall in 
den Kulturstaaten die Arbeiter feierten, da Sprang der Fluch 
von den Lippen der Erschreckten. Unter diesem Fluch Iist 
das Proletariat alljährlich in den Mai gezogen; diesem 
Fluch zum Trotz ist der Maigedanke über die Erde ge- 
wachsen und hat überall im Herzen des Proletariats Seine 
Heimat gefunden. Heute -- freier, Stärker und verjüngt, 
marschieren wir zum vierzigsten Male in den Maientag. 
Woher kam die Kunde vom Maifest? Hat Sie Verbindung 
mit uralten Maibräuchen, wollte man im Biütenzauber neuen 
Lebensmut Schöpfen und Sich dem Rausch des lieblichsten 
Monats hingeben? Nichts von dem. Im Jahr 1889 kamen 
die Vertreter der Arbeiterorganisationen zum Inter“ 
nationalen Sozialistenkongreß in Paris zu- 
Sammen, um erneut die Fäden internationaler Verbrüderung 
zu knüpfen. Lange Jahre hindurch waren die Verbindungen 
der Proletarier über die Ländergrenzen hinweg zerrissen 
gewesen. Die Mahnung: „Proletarier aller Länder 
vereinigteuch!“ gollte wieder unter die Arbeitermassen 
getragen werden. Die geeignetste Stadt, von der dieser Rui 
ausgehen Sollte, war Paris. Dort feierte man 1889 die 
hundertjährige Wiederkehr des Sturms auf die Bastillen, den 
Beginn der großen französiSchen Revolution. Ein großes 
Fest mit einer Weltausstellung als prächtigen Hintergrund, 
ein Fest der besitzenden Klasse, die Sich in der Freiheit, 
die ihr ihre Revolution gegeben, Sonnte. An dieSsen Tagen 
waren die Sozialisten in Paris versammelt und der Festes- 
rausch der Nation wird die Delegierten eindringlichst be» 
Stimmt haben, nunmehr mit aller Kraft die Internationale der 
Arbeiter aufzubauen. Dieser Kongreß, ein Markstein in der 
Geschichte der Arbeiterbewegung, sah auch die Soziale 
Not des Proletariats und krönte Seine Arbeit mit 
dem Beschluß*“ . 
An einem betimmten Tag wird in allen Nationen aller- 
orts eine großartige Kundgebung des Proletariats ſür das 
ArbeiterSchutzrecht veransStaltet. Der Tag für die ganze 
Welt ist der !. Mai 1890, An dem genannten Tage Sollen 
die Arbeiter aller Länder durch öffentliche Kundgebungen 
die geSetzliche FeSilegung eines achtstündigen Maximal 
arbeitstages, Sowie die Durchführung aller übrigen Be- 
SchlüSse des KongresSes unter AnpaSSung an die Ver- 
hältnisse ihrer Länder fordern. 
Wir erfassen heute nicht auf den ersten Blick die Kühn- 
heit, die aus diesem Beschluß Sprach. Könnten die Zeugen 
von damals vor uns treten und uns lebendig ihre Zeit schil- 
dern, wir würden gie begeistert als unsere Vorkämpfer feiern. 
Gegen Sie Stand alle Welt mit aller Macht. Ueber Deutsch- 
land lag noch das SozialistengesSetz, das Schand- 
gesSetz, das erst am 1. Oktober 1890 fiel. Erst mit Seinem 
Verschwinden wurde der Arbeiterschaft ein Teil politischer 
Freiheit wiedergegeben. Die Gewerkschaften waren gekne- 
belt und konnten Sich nicht unbekümmert in Kämpte Stürzen. 
Der Arbeiterschutz blieb zum Hohn der Botschaft des 
„Heldenkaisers , die dieser 1881 dem Volke Schenkte, in 
den kümmerlichsten Anfängen stecken. Die winzigen Zu 
 
 
geständnisse gab man als Abwehr auf die unermüdlichen 
Vorstöße der Arbeiterschaft. 
Doch mit diesem „AlmoSensozialismus“ klärte man die 
Arbeiter über die wahren AbSichten der deutschen Sozial» 
politik, die man gern in der Welt bewundern ließ, nur auf. 
Das Zuckerbrot, das man binreichte, war doch zu billig, um 
die Arbeiter damit einzufangen, und das Gesetz über die 
Invaliditäts- und Altersversicherung, das man 1889 erließ, 
war So Schlecht, daß die Sozialdemokraten im Reichstag 
dagegen Stimmen mußten. So Stand es 1890 um das Recht 
des Arbeiters: Ungenügender Schutz gegen die Gefahren 
im Betrieb, Schwache Sicherung gegen Krankheit, Unfall 
und Tod, Spärliche Hilfe für die Hinterbliebenen, Witwen 
und Waisen, bettlerhaftes Verlöschen der in der Arbeit alt 
und grau gewordenen Proletarier. Die Arbeitszeit war nicht 
geregelt und nur Starke Arbeiterverbände konnten Schritt- 
weise einer Verkürzung des Arbeitstages zustreben. Mußten 
Schon die Erwachsenen zehn bis zwölf Stunden im Betrieb 
Stehen, So gab es für den Jugendlichen keine Gren- 
zen, weil ja in der Auffassung jener Zeit -- auch unter der 
Arbeiterschaft -- der Jugendliche zu denen gehörte, denen 
erst einmal die Arbeit mit all ihrer Qual beigebracht werden 
mußte. Den Gedanken an Urlaub wagte man gar nicht zu 
erwähnen, und die Arbeiterin, die dem Vaterland ein neues 
Leben Schenkte, hielt es für Selbstverständlich, daß Sie Sich 
bis zum letzten Tag in die Fabrik Schleppte. 
Macht uns das den Beschluß von Paris verständlich, So 
doch noch nicht klar. Das Bild wird uns erst klar, wenn wir es 
etwas mit der politisSchen Luft der damaligen Zeit durch- 
wehen lasSgen. Allerdings, friSsche Luft war es nicht, die der 
Arbeiter einziehen durfte. Wollte er Seine Brust weiten, 
dann mußte er die Kampfeslust gegen das kaisSerliche 
Deutschland atmen. Der Arbeiter war minderen Rechts im 
Staat. Zwar hatte man ihm zugestanden, zum Reichstag 
denselben Stimmzettel abzugeben wie der Besgitzende, aber 
nur der Mann, der über 25 Jahre zählte, durfte wählen. Je- 
doch in den Ländern und Gemeinden herrschte das Dr ei- 
klaSSgenwahlrecht, das den Arbeiter politisch zur 
Ohnmacht verdammte. Um 180 ging der Arbeiter über- 
haupt nicht zur Wahl jener Parlamente. Die Versammlungs- 
freiheit war Stark eingeschnürt, und wehe der Frau, wenn Sie 
in einer politischen Versammlung das Wort ergriffen hätte; Sie 
gehörte eben ins Haus und Widerspenstige nahm der Polizist 
mit. Die Redakteure der Arbeiterpresse mußten Sorgsam 
ihre Worte wählen, um nicht dem Strafrichter zu verfallen. 
Unantastbar Standen die geheiligten Majestäten und der 
Militariemus vor dem Volk. Wehe dem, der Seine Feder 
in Kritik gegen Sie zückte, er wurde von den beflissenen 
Lakaien des herrschenden Systems in den Stets vorrätigen 
Paragraphen gefangen und Konnte hinter festen Mauern 
lange über Seine Sünden nachdenken. 
In dieszen Mai marSchierten 1890 die Arbeiter. Nicht in 
jenen Riesenaufmärschen mit wallenden Fahnen und friSchen 
'Kampfgesängen, wie wir Sie heute kennen. Nein, es waren 
Spaziergänger, die Sich in einem Lokal fanden, um dort vom 
Redner gich den Sinn des Festes verkünden zu lasSen. Die 
traßen und Plätze waren für Kundgebungen gesperrt, die 
rote Fahne mit der leuchtenden acht, dem Symbol des Acht- 
Stundentages, wurde von der Polizei beschlagnahmt. Polizei 
war überall dabei, überwachte den Redner und hatte die 
Macht, die Versammlung aufzulöSen, wenn allzu Scharfe 
Worte durch den Saal flogen. In den nächsten Jahren übten 
die Unternehmer Rache an den kampfesmutigen Arbeitern. 
Viele, die am 1. Mai der Arbeit fernblieben, wurden ent- 
lassen oder auf Wocher: ausgesperrt, und es bedeutete für 
den Arbeiter ein großes Opfer, wenn er dem Unternehmer 
trotzte. Tausende mußten jährlich diese Rache Spüren.
	        
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