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ARBEITER-JUGEND NR. 5
Als vor vierzig Jahren die Arbeiter in allen Ländern
rüSteten, am 1. Mai für den Achtstundentag, iür
den Arbeiterschutz zu demonstrieren, da mögen die
Gewaltigen auf den TIhronen und MinisterSsesSeln und ihre
Begnadeten, die BeherrScher der Fabriken, über den neuen
Wahnwitz gelächelt haben. Im Vollgefühl ihrer Kraft und
Macht konnten Sie auf die geknebelten MassSen verächtlich
und hohnvoll herabschauen. Als dann aber am 1. Mai 1890
die Arbeiter in den Fabrikstädten wirklich den Mut auf
brachten, der Arbeit fernzubleiben und durch die Straßen
zu marSchieren, da zuckte ein Erschrecken über das Gesicht
der herrschenden Klasse. Und als gar die Meldungen kamen,
daß nicht nur in Deutschland, nein, auch in Paris, in
Petersburg, in Prag, in Brüssel und Wien und überall in
den Kulturstaaten die Arbeiter feierten, da Sprang der Fluch
von den Lippen der Erschreckten. Unter diesem Fluch Iist
das Proletariat alljährlich in den Mai gezogen; diesem
Fluch zum Trotz ist der Maigedanke über die Erde ge-
wachsen und hat überall im Herzen des Proletariats Seine
Heimat gefunden. Heute -- freier, Stärker und verjüngt,
marschieren wir zum vierzigsten Male in den Maientag.
Woher kam die Kunde vom Maifest? Hat Sie Verbindung
mit uralten Maibräuchen, wollte man im Biütenzauber neuen
Lebensmut Schöpfen und Sich dem Rausch des lieblichsten
Monats hingeben? Nichts von dem. Im Jahr 1889 kamen
die Vertreter der Arbeiterorganisationen zum Inter“
nationalen Sozialistenkongreß in Paris zu-
Sammen, um erneut die Fäden internationaler Verbrüderung
zu knüpfen. Lange Jahre hindurch waren die Verbindungen
der Proletarier über die Ländergrenzen hinweg zerrissen
gewesen. Die Mahnung: „Proletarier aller Länder
vereinigteuch!“ gollte wieder unter die Arbeitermassen
getragen werden. Die geeignetste Stadt, von der dieser Rui
ausgehen Sollte, war Paris. Dort feierte man 1889 die
hundertjährige Wiederkehr des Sturms auf die Bastillen, den
Beginn der großen französiSchen Revolution. Ein großes
Fest mit einer Weltausstellung als prächtigen Hintergrund,
ein Fest der besitzenden Klasse, die Sich in der Freiheit,
die ihr ihre Revolution gegeben, Sonnte. An dieSsen Tagen
waren die Sozialisten in Paris versammelt und der Festes-
rausch der Nation wird die Delegierten eindringlichst be»
Stimmt haben, nunmehr mit aller Kraft die Internationale der
Arbeiter aufzubauen. Dieser Kongreß, ein Markstein in der
Geschichte der Arbeiterbewegung, sah auch die Soziale
Not des Proletariats und krönte Seine Arbeit mit
dem Beschluß*“ .
An einem betimmten Tag wird in allen Nationen aller-
orts eine großartige Kundgebung des Proletariats ſür das
ArbeiterSchutzrecht veransStaltet. Der Tag für die ganze
Welt ist der !. Mai 1890, An dem genannten Tage Sollen
die Arbeiter aller Länder durch öffentliche Kundgebungen
die geSetzliche FeSilegung eines achtstündigen Maximal
arbeitstages, Sowie die Durchführung aller übrigen Be-
SchlüSse des KongresSes unter AnpaSSung an die Ver-
hältnisse ihrer Länder fordern.
Wir erfassen heute nicht auf den ersten Blick die Kühn-
heit, die aus diesem Beschluß Sprach. Könnten die Zeugen
von damals vor uns treten und uns lebendig ihre Zeit schil-
dern, wir würden gie begeistert als unsere Vorkämpfer feiern.
Gegen Sie Stand alle Welt mit aller Macht. Ueber Deutsch-
land lag noch das SozialistengesSetz, das Schand-
gesSetz, das erst am 1. Oktober 1890 fiel. Erst mit Seinem
Verschwinden wurde der Arbeiterschaft ein Teil politischer
Freiheit wiedergegeben. Die Gewerkschaften waren gekne-
belt und konnten Sich nicht unbekümmert in Kämpte Stürzen.
Der Arbeiterschutz blieb zum Hohn der Botschaft des
„Heldenkaisers , die dieser 1881 dem Volke Schenkte, in
den kümmerlichsten Anfängen stecken. Die winzigen Zu
geständnisse gab man als Abwehr auf die unermüdlichen
Vorstöße der Arbeiterschaft.
Doch mit diesem „AlmoSensozialismus“ klärte man die
Arbeiter über die wahren AbSichten der deutschen Sozial»
politik, die man gern in der Welt bewundern ließ, nur auf.
Das Zuckerbrot, das man binreichte, war doch zu billig, um
die Arbeiter damit einzufangen, und das Gesetz über die
Invaliditäts- und Altersversicherung, das man 1889 erließ,
war So Schlecht, daß die Sozialdemokraten im Reichstag
dagegen Stimmen mußten. So Stand es 1890 um das Recht
des Arbeiters: Ungenügender Schutz gegen die Gefahren
im Betrieb, Schwache Sicherung gegen Krankheit, Unfall
und Tod, Spärliche Hilfe für die Hinterbliebenen, Witwen
und Waisen, bettlerhaftes Verlöschen der in der Arbeit alt
und grau gewordenen Proletarier. Die Arbeitszeit war nicht
geregelt und nur Starke Arbeiterverbände konnten Schritt-
weise einer Verkürzung des Arbeitstages zustreben. Mußten
Schon die Erwachsenen zehn bis zwölf Stunden im Betrieb
Stehen, So gab es für den Jugendlichen keine Gren-
zen, weil ja in der Auffassung jener Zeit -- auch unter der
Arbeiterschaft -- der Jugendliche zu denen gehörte, denen
erst einmal die Arbeit mit all ihrer Qual beigebracht werden
mußte. Den Gedanken an Urlaub wagte man gar nicht zu
erwähnen, und die Arbeiterin, die dem Vaterland ein neues
Leben Schenkte, hielt es für Selbstverständlich, daß Sie Sich
bis zum letzten Tag in die Fabrik Schleppte.
Macht uns das den Beschluß von Paris verständlich, So
doch noch nicht klar. Das Bild wird uns erst klar, wenn wir es
etwas mit der politisSchen Luft der damaligen Zeit durch-
wehen lasSgen. Allerdings, friSsche Luft war es nicht, die der
Arbeiter einziehen durfte. Wollte er Seine Brust weiten,
dann mußte er die Kampfeslust gegen das kaisSerliche
Deutschland atmen. Der Arbeiter war minderen Rechts im
Staat. Zwar hatte man ihm zugestanden, zum Reichstag
denselben Stimmzettel abzugeben wie der Besgitzende, aber
nur der Mann, der über 25 Jahre zählte, durfte wählen. Je-
doch in den Ländern und Gemeinden herrschte das Dr ei-
klaSSgenwahlrecht, das den Arbeiter politisch zur
Ohnmacht verdammte. Um 180 ging der Arbeiter über-
haupt nicht zur Wahl jener Parlamente. Die Versammlungs-
freiheit war Stark eingeschnürt, und wehe der Frau, wenn Sie
in einer politischen Versammlung das Wort ergriffen hätte; Sie
gehörte eben ins Haus und Widerspenstige nahm der Polizist
mit. Die Redakteure der Arbeiterpresse mußten Sorgsam
ihre Worte wählen, um nicht dem Strafrichter zu verfallen.
Unantastbar Standen die geheiligten Majestäten und der
Militariemus vor dem Volk. Wehe dem, der Seine Feder
in Kritik gegen Sie zückte, er wurde von den beflissenen
Lakaien des herrschenden Systems in den Stets vorrätigen
Paragraphen gefangen und Konnte hinter festen Mauern
lange über Seine Sünden nachdenken.
In dieszen Mai marSchierten 1890 die Arbeiter. Nicht in
jenen Riesenaufmärschen mit wallenden Fahnen und friSchen
'Kampfgesängen, wie wir Sie heute kennen. Nein, es waren
Spaziergänger, die Sich in einem Lokal fanden, um dort vom
Redner gich den Sinn des Festes verkünden zu lasSen. Die
traßen und Plätze waren für Kundgebungen gesperrt, die
rote Fahne mit der leuchtenden acht, dem Symbol des Acht-
Stundentages, wurde von der Polizei beschlagnahmt. Polizei
war überall dabei, überwachte den Redner und hatte die
Macht, die Versammlung aufzulöSen, wenn allzu Scharfe
Worte durch den Saal flogen. In den nächsten Jahren übten
die Unternehmer Rache an den kampfesmutigen Arbeitern.
Viele, die am 1. Mai der Arbeit fernblieben, wurden ent-
lassen oder auf Wocher: ausgesperrt, und es bedeutete für
den Arbeiter ein großes Opfer, wenn er dem Unternehmer
trotzte. Tausende mußten jährlich diese Rache Spüren.