Full text: Arbeiter-Jugend - 22.1930 (22)

 
Die DiskuSSIONSredner 
Wir Silzen in einer Versammlung. Schon ist eine Stunde 
vergangen. Langsam tickt die Uhr. Nodh langsamer 
fließen die Worte des. Redners dem „Gehege Seiner 
Zähne“. Hin und wieder hebt ein Zuhörer die Hand zum 
Mund. gähnt und denkt: will denn der Kerl noch nicht 
aufhören? - 
Oede Langeweile liegt über dem Raum. Nichts bewegt 
Sim. Geistesabiwesend belſrachlet der Willy die Gretel. 
Seine Gedanken kreisen um dieses Mädel. Schöne und 
traurige Erlebnisse Sdhlüpfen über die Schwelle Seines 
Bewuſßtseins. Da hebt der Redner Seine Stimme, er kommt 
zum Sdluß. Die Zuhörer aimen auf, Leben kommt in 
ihre Gesichter. Willy, aus Seiner Träumerei auf gesdqnreckt, 
freuſf Sich über das Ende der Rede und denkt: auch diese 
Qual ist vorüber, 
Reicher Beifall belohnt den Redner. 1sts die Aner- 
kennung der Leistung? 1st's die Freude über das Ende 
der Rede? Jedenfalls Freuen Sim nun Mädel und Burschen 
auf das Spiel, die Unterhaltung, die nun kommen wird. 
Dodh adh. ihr Freunde, wir 
freuten uns zu früh. Der Rede- 
fluß ist noh nicht vorbei. Nun 
kommt der zweite Akt. Im 
Namen der V ersammelten dankt 
der Vorsilzende dem Referen- 
ten für Seine „feine, klar auf- 
gebaute“ Rede. Nun Stehen die 
Ausführungen zur Diskussion. 
Niemand will beginnen. Nach 
einigen ermunlernden Worten 
„opfert“ Sich ein Genosse. Er 
iSt offensimmtlich erbost. NXie- 
mand weiß zu Sagen warum. 
Seine Stimme übersdqhlägt Sich. 
Der Referent, 50 legt er los, 
hätte nicht verstanden, worum 
es geht. Natürlich könne man 
nun nicht erwärten, daß er Sich 
Seiner Aufgabe g gewadsen zei ge. 
Dodh davon abgesehen, SCi alles 
falsch. was er "Sesagt Rabe. 
Da geht dem Kritiker der 
Alem aus, und er Sdinappt 
näch Luft. Wie dicke Perlen 
rollen ilm die Schweißtropfen 
pon der Stirn. Dodh das be- 
flügelt nur Seine Kritik. Er will 
nun beweisen, daß Seine Be- 
hauptungen richtig Seien. Aber alle Kritik ziell auf Yeben- 
Sächlichkeiten, auf Randbemerkungen des Redners und trifft 
leider nicht den Kern. Man hat den Eindruck: der gute 
Diskussionsredner haf während des Vortrags zu wenig die 
Ohren gespitzt. 
So ging eine halbe Stunde hin. Immer wurden un- 
wesentliche Dinge als Shlagende Argumente ins Feld ge- 
führt. Die Aufmerksamkeit der Versammlung wurde 
immer geringer, der Diskussionsredner verstärkt sgeine 
Stimme, "Sucht Gehör zu finden, Spricht, schreit bis er 
voll Ershöpfung auf den Stuhl Sinkt. 
Nun ist die Diskussion im Fluß. Der zweite Redner 
Spricht. Er lobt den Referenten, findet Seine Ausführungen 
ausgezeimnet. Ja, er meint, nie habe er ein 30 klares 
Referat gehört. Nun beginnt er in wenig klarer Weise 
die Gedanken des Referenten zu wiederholen. Seine Stete 
Wendung ist: wie uns der Referent Schon gesagt hat, oder 
wie unser Redner bereits bemerkte usw. Bei all dieser 
Wiederholung und Lobhudelei drängt Sich die Empfindung 
auf: der gute Genosse hört Sich gern reden. Er will nicht 
das Thema, Sondern Seine Person in den Mittelpunkt des 
Interesses Stellen. 
Der dritte und der vierle Diskussionsredner fauchen 
auf. Sie üben Sich alle in der einen Tugend: IVYieder- 
holung. Die Gedanken des Referentlen wie des ersten 
Diskussionsredners werden wieder gekaut. Geduldig läßt 
die Zuhörersqhaft diese Redeflui über Sich ergehen. 
iInzwischen haben Simm die „WF“ erantwortlichen“ von ihrein 
Schreck erholt, Nun werden Sie's dem erstlen Diskussions- 
 
Winkel in einer Danziger Jugendherberge 
ZH ARBEITER-JUGEND NR.16 
Der eine übt Kritik an dem Verlauf der 
Diskussion. Man habe gesäagt, der Referent habe zich 
Seiner Aufgabe - nicht gewadhsen gezeigl. Dod kein 
Kritiker habe nun die Frage richtig gestellt und Sein Teil 
zu ihrer Beantworlung beigetragen. Da ersdalit ein 
Zwoishenruf: „Na, nun bist Du an der Reihe, du wirst 
die Sache machen.“ Allgemeine Heiterkeit bei der Ver- 
Sammlung. Nur der Bewitzelte bleibt ernst, er überhört 
den Zwishenruf. Aus den Ausführungen der vorher- 
gehenden Redner zieht er den Sdhluß, daß Sold geistig 
minderbemittelte Diskussionsredner nicht befugt geien, an 
dem glänzenden Referat Kritik zu üben. Sie "Sollten Sich 
zuersf auf den Hosenboden Setzen, was lernen und dann 
reden. Befriedigt über diesen Hieb Schaut er Sich voll 
Stolz um und Selzt Sich. 
Dem Vorszitzenden Sdliien diese Abfuhr niqt Kräftig 
genus. Er wollte diesen Kerlen, die immer ur zu 
meckern hatfen, einmal dig Leviten lesen. Er rückte die 
Kritiker ins recite Licht, stellte ihre Taten urd ihre 
IWorte einander gegenüber und 
erging Sim in wenig maß- 
pollen Angriffen. Die Spannung 
in der Versammlung wurde 
immer größer. Bald entlud Sich 
die Erregung. JLwismenrufe 
wurden laut. Die Unruhe 
nahm immer mehr zu. Schon 
madcſten einige Zuhörer den 
Tersudh, Sid: zu entfernen. die 
erseten Sdhimpfworte wurden 
laut . . . Da griff der Referent 
ein. Yur unter Jufbietung 
aller Ueberredun gskunst Konnte 
er die Wl ogen glätten. die Ge- 
mütter besänftigen. Die J er- 
Sammlung nähm wohl ein ar- 
dentliches Ende, doch die JI er- 
SQ immung blieb. 
". NS 
2: >< 
Toll Unbehagen derke im 
nod heute an diese ZuSammen- 
Kunft. JWWohl isf Sie eine 4uS- 
natume. Solche Fälle Sind Selten. 
Dodhn finden wir nicht in vielen 
Diskussionen ähnlime Dinge? 
Gibt es nicht viele DiSkuSSionS- 
| redner. die einem Referenten 
enigegentreien, ohne Sachliche 4rgumente in die Debaite 
verſen zu können? Gibt es nicht Yorsitzende wund Funk- 
tionäre, die einige GenosSsen nicht mit der notwendigen 
Kameradsdqiaftlichkeit behandeln, nur weil Sie hin und 
wieder Kritik üben? 
Wie aber lassen Sim Solene Mängel abstiellen? Yun, 
indem jeder Diskussionsredner folgende TI inke beadnhtet. 
Wer zu einem Vortrag Sprechen will, muß genau zuhören. 
Nur dann kann er der Gefahr entgehen, CGreSagtes zu 
miederholen oder den Referenten mißzuverstehen und 
ilm dann un geredhterweise anzugreifen. Man kann über- 
haupt nur aus: zwei Gründen zur Diskussion Spredien. 
Entweder man ist anderer Meinung als der Referent, 
oder man ist grundsätzlim mit ihm einverstanden, 
wünsdht aber in dieser oder jener Hinsicht eine wesSent- 
liche Ergänzung zu madien, neue Gefichtspunkte aufzu- 
zeigen. In beiden Fällen geht man ohne Umsdqiwveife auf 
Sein Ziel los. Ist man anderer Meinung als der Referent, 
SO Stellt man Seine AuffasSung der des Referenten gegen- 
über und zeigt die Gründe, warum man ihm nicht Zu- 
Stimmen kann. Je klarer und Sachlimier man dies tut, 
desto eher wird man die Zuhörer für Seine 3Jfeinung ge- 
winnen. Wer aber in beiden Fällen nichts zu 8agen hat, 
der Stelle Fragen. Nur wer Fragen Stellt, zeigt, daß er 
dem Vortrag gefolgt ist. Vor allem vergesse man nicht: 
auch der Diskussionsredner bedarf einer geistigen Dis- 
ziplin. Audh er ist für die Gestaltung einer I erszammlung 
verantwortlich. Artur Schweitzer, Berlin. 
reiner geben. 
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