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30 lage ausgewiesen. Sie weigerten Sich zu gehen. Der Reichstag flog auf.
Nach Schluß rückten ganze Kolonnen von uniformierter Polizei ein. Die vier
an der Schlägerei beteiligten Abgeordneten wurden festgenommen, und Schon
am nächsten Tage wurden drei von ihnen im „Schnellgerichts“verfahren zu
längeren Gefängnisstrafen verurteilt.
Ehe der Reichstag durch die Rüpeleien der Nationalsozialisten S0 ruhmlos
vertagt wurde, hatte er wenigstens die Mißtrauensanträge gegen die Reichs-
regierung abgelehnt und ein für die Bereitstellung von Mitteln für die Arbeits-
beschaffung wichtiges Finanzgesetz angenommen. So gab er der Reichs-
regierung immerhin die Möglichkeit weiterer verfasSungsmäßiger Betätigung.
Dem Reichstag lag auch ein nationalsozialistischer Antrag vor, die Sozial-
'demokratischen Freidenkerorganisationen und die -- Sozialistische Arbeiter-
jugend zu verbieten. Das führte in der Nachtsitzung zu einem Scharfen Rede-
duell zwischen dem deutschnationalen Hofprediger Doehring und dem Sozial-
demokratischen Abgeordneten Sollmann. Dieser ſorderte den vorlauten
Pfarrer mit der Bibel in der Hand auf, Sich lieber um die „Sittlichkeit“ im
Braunen Hause zu München zu bekümmern, statt Sich Sorgen um die Er
ziehung der SozialistiSchen Jugend zu machen. Im übrigen sei es für die
Sozialistische Arbeiterjugend eine Ehre, wenn von den Nationalsozialisten
ihr Verbot gefordert werde.
Die Aussprache zeigte, daß in den Reihen der guten Christen noch immer
haarsträubende Vorstellungen über Wegen und Arbeit der Sozialistischen
Arbeiterjugend bestehen. Bei manchen Leuten gind diese Phantasien noch
genau so0 toll wie vor 25 Jahren, als wir unsere Arbeit begannen und wir
Schlankweg für eine Filiale des Teufels gehalten wurden. Wegen ungeres
Wanderns und wegen ungerer Versammlungen mit Mädels außerdem als eine
Art Sodom und Gomorrha.
Durch den plötzlichen Schluß des Reichstags wurde über den Antrag nicht
mehr abgestimmt. Man weiß also nicht, welche Parteien Sich durch das Ein-
treten für diesen Antrag geschändet haben würden. Der Vorstoß zeigt, was
der Sozialistischen Arbeiterjugend blühen würde, wenn die Nationalsozia-
lieten, die Hugenberger, die Stahlhelmer und andere Kanonenchristen zur
Macht kämen.
Auf dem Wege der Koalition Scheint diese Machtergreifung noch nicht so
leicht möglich zu Sein. War Schon vorher die Neigung des Zentrums in
Preußen und im Reich nicht eben groß, mit den Nationalsozialisten eine
Regierungsgemeinschaft zu bilden, So wird Sie nach den verschiedenen
Banditenstückchen der Herren Naziſührer in dieser kurzen Reichstagsperiode
noch gesunken Sein,
Damit ist aber auch die Unsicherheit, der Schwebezustand im deutschen
VerfasSsungsleben aufgezeigt. Im Reich wird mit halbdiktatorischen Verord-
nungen regiert, weil das Parlament stark gelähmt ist. Im „größten Land, in
Preußen, ist eine arbeitsfähige Mehrheit nicht abzusehen und eine Regierung
mit einer Mehrheit hinter Sich erst recht nicht. Bleibt wahrscheinlich nur die
Möglichkeit, daß die Regierung Braun-Severing-Hirtsiefer die Geschälte
weiterführt, weil Sich. keine Mehrheit zur Wahl eines neuen Ministerpräsi-
denten zusammenfindet.