Full text: Katholische Lehrerzeitung - 4.1893 (4)

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Katholische Lehrerzeitung. 1893. Nr. 22. 
aber wie ist dieselbe befolgt worden? Man hat die Dich 
tungen zur Bereicherung der Kenntnisse benutzen wollen, 
bat über dem ewigen Zergliedern und Wiederzusammenfügen, 
dem Drehen und Deuteln der Dichtung den inneren Faden 
gänzlich verloren, das Gemüt fand keinen Gefallen an dem 
Dichtungsstoff, weil ihm die Freude an dem schönen Ge 
wände zerpflückt wurde. Wo man wirklichen poetischen 
Duft finden konnte, da wurde er durch die Des 
infektionsmittel der Verstandesbildung, durch 
Abhaspeln von Definitionen und Dispositionen 
verscheucht. Man hat eben außer acht gelassen, daß die 
wahre Dichtung durch sich selbst wirkt; wo man glaubt, 
daß das Verständnis den Kindern abgehe, da mühe man 
sich nicht umsonst ab, sondern greife zu anderen Stoffen. 
Hierbei muß aber bemerkt werden, daß gar manches von 
den Kindern tief gefühlt wird, ohne daß sie ein völliges 
Verständnis davon haben. Dies geht erst in späterer Zeit 
auf, und desto größer ist dann die Freude, desto mehr wächst 
dann auch das Wohlgefallen. So ist es ja auch mit jeg 
lichem Unterrichtsstoffe. Man überschätzt die Aufgabe unserer 
Volksschule, wenn man glaubt, alles, was die Kinder in 
ihr Gedächtnis aufgenommen, müßten sie auch ver 
stehen. Auch nicht Verstandenes ist für die Kinder oft 
wertvoll, ja: wollte man nur das die Kinder lehren, 
was sie mit ihrem Verstände verarbeiten können, 
dann müßte man manche Stoffe, welche jetzt in 
der Volksschule auf dem Lehrplan stehen, erst im 
reifen Mannesalter dem Schüler mitteilen. Je 
doch über die Verwertung der Poesie für die Gemütbildung 
und die dazu erforderliche Art der Behandlung später. 
Zunächst ist die Frage zu beantworten: Welche Dich 
tungsarten und insbesondere welche Stoffe eignen 
sich für die Volksschule? Um diese Frage genügend 
zu beantworten, sind vorher die Fächer in Betracht zu 
ziehen, welche der Poesie als Vermittlerin bedürfen. 
II. 
Unter diesen steht obenan der Religionsunterricht, 
nicht nur als oberster Unterrichtsgegenstand überhaupt, 
sondern auch wegen der vielen natürlichen Beziehungen 
zwischen Religion und Poesie. Man könnte sogar die Re 
ligion die Quelle der Poesie nennen. Ja, unser Kellner 
geht sogar soweit, zu sagen: „Religion ist zugleich 
Poesie," und daß wir ihm darin beistimmen können, dazu 
nötigt uns sein Beweis, den er in folgenden Worten er 
bringt : „denn sie verlangt eine Lebens- und Weltanschauung, 
welche vom Irdischen erhebt und des Menschen ganzes 
Denken und Thun einem höheren Ziele zulenkt, das an 
sich selbst wieder in seiner geheimnisvollen Ferne zu jener 
ewigen Sehnsucht Anlaß giebt, die das ganze Dasein ver 
klären sollte. Darum hat sich auch die Religion, wo sie 
den ganzen Menschen erfüllte und befriedigte, stets mit der 
Kunst vermählt und beide haben sich vereinigt, um das 
darzustellen, wozu das reiche und volle Herz eigentlich keine 
Worte finden kann." 
Und fürwahr, wenn die Dichtung es mit ihrem! 
eigenen Wesen ernst nimmt, dann ist kein langer Rückhalt 
möglich, dann muß sie sich bekennen zur Religion, die ihre 
Wahrheit und der Abgrund ihrer Ruhe ist. Wie wäre es 
auch anders denkbar! Ist doch jede künstlerische Thätigkeit 
das Streben, der unvollkommenen Wirklichkeit das Bild 
des Vollkommenen gegenüberzustellen. Gott aber ist die 
absolute Vollkommenheit und der Urquell alles Schönen, 
somit auch das Ideal der Kunst. Gott aber ist ein Geist 
und daher sinnlich nicht wahrnehmbar. Deshalb muß der 
Mensch das Bild Gottes in sich selbst suchen; seine Be 
ziehungen zu Gott lebendig ergreifen; der Mensch in 
seinen Beziehungen zur Gottheit ist also der 
schönste und eigentlichste Vorwurf der Kunst. 
Hören wir, was der Litterat Reuter treffend sagt: „Alle 
Kunst ist im letzten Grunde eine Verkündigung 
der Herrlichkeit Gottes. Daraus erklärt sich eine 
von der Kunstgeschichte aller Zeiten und Völker 
beglaubigte Thatsache: daß nämlich die echte 
Kunst stets ihre Weihe erhielt von der Religion 
und daß die herrlichsten Schöpfungen auf jedem 
Gebiete der Kunst Eingebungen des göttlichen 
Geistes waren. Die Geschichte lehrt, daß sämt 
liche Künste ursprünglich aus der Religion und 
dem Go ttesdienste hervorgegangen sind und daß, 
als der Verfall des heidnischen Götterglaubens 
auch denVerfall der schönenKünste nach sich zog, 
die christliche Kirche es war, welche dieKunst aus 
den Trümmern der alten Welt wiedererstehen 
ließ und sie mit neuen und höheren Idealen 
erfüllte." 
Zwar hat gerade die moderne Kunst, insbesondere auch 
die Dichtkunst, mit der christlichen Religion gebrochen, da 
letztere keine Freundin der über die Schranken tretenden Sinn 
lichkeit ist, und eben diese die einzige Triebfeder der neueren 
Litteratur bildet. Daß aber trotz der Einschränkungen, 
welche die Religion dem Dichter auferlegt und, besser gesagt, 
gerade wegen dieser, vor Irrungen bewahrenden Schranken, 
die Poesie zu wahrer Blüte sich entfalten kann, das beweisen 
die herrlichen Schöpfungen der christlichen Litteratur, 
auch der neueren (genannt seien nur Eichendorff, Red 
witz und Weber); und Eichendorff spricht in seinem 
gefühlsinnigen Romane „Ahnung und Gegenwart", welcher 
eine wahre Perle unter Gebilden gleichen Namens ist, das 
beste Urteil über die Grundlage der Poesie in den Versen 
aus: 
„Den lieben Gott laß in dir walten, 
Aus frischer Brust nur treulich sing! 
Was wahr in dir, wird sich gestalten, 
Das andre ist erbärmlich Ding." — 
Es kann uns nicht wundern, daß ein Dichter, der so 
sehr die Notwendigkeit der religiösen Grundlage der Poesie 
erkannte, wie Eichendorff, übersprudelt in der reinen Freude an 
der Natur, der großen Offenbarerin der göttlichen Wahrheit 
und Schönheit. Leider denkt nicht jeder so edel von dem 
göttlichen Berufe des Dichters, wie unser Eichendorff, der 
das Treiben so mancher Dichterlinge der Neuzeit mit pro 
phetischem Geiste schilderte: „Wie wollt ihr, daß die Menschen 
eure Werke hochachten, sich daran erquicken und erbauen 
sollen, wenn ihr euch selber nicht glaubt, was ihr schreibt, 
und durch schöne Worte und künstliche Gedanken Gott und
	        
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