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Katholische Lehrerzeitung. 1893. Nr. 22.
Mensch zu überlisten trachtet? Das ist ein eitles, nichts
nutziges Spiel, und es hilft euch doch nichts, denn es ist
nichts groß, als was aus einem einfältigen Herzen kommt.
Das heißt recht dem Teufel der Gemeinheit, der immer in
der Menge wach auf der Lauer ist, den Dolch selbst in die
Hand geben gegen die göttliche Poesie. Wo soll die rechte,
schlichte Sitte, das treue Thun, das schöne Lieben, die
deutsche Ehre und alle die alte, herrliche Schönheit sich
hinflüchten, wenn es ihre angebornen Ritter, die Dichter,
nicht wahrhaft ehrlich und ritterlich mit ihr meinen? Bis
in den Tod verhaßt sind mir besonders jene ewigen Klagen,
die mit weinerlichen Sonetten die alte, schöne Zeit zurück
winseln, und wie ein Strohfeuer weder die Schlechten
verbrennen noch die Guten erleuchten und erwärmen.. . .
Die heiligen Märtyrer, wie sie, laut ihren Erlöser
bekennend, mit aufgehobenen Armen in die Todes
flammen sprangen— das sind des Dichters echte
Brüder, und er soll ebenso fürstlich denken von sich, denn
sowie sie den ewigen Geist Gottes auf Erden durch Thaten
ausdrückten, so soll er ihn aufrichtig in einer verwitterten,
feindseligen Zeit durch rechte Worte und göttliche Erfin
dungen verkünden und verherrlichen. Die Menge, nur auf
weltliche Dinge erpicht, zerstreut und träge, sitzt gebückt
und blind draußen im warmen Sonnenscheine und langt
riihrend nach dem ewigen Lichte, das sie niemals erblickt.
Der Dichter hat einsam die schönen Augen offen: mit Demut
und Freudigkeit betrachtet er, selber erstaunt, Himmel und
Erde, und das Herz geht ihm auf bei der überschwenglichen
Aussicht, und so besingt er die Welt, die wie Memnons
Bild voll stummer Bedeutung nur dann durch und durch
erklingt, wenn sie die Aurora eines dichterischen Gemüts
mit ihren verwandten Strahlen berührt." —
Möge der Lehrer diese Worte Eichcndorfss, besonders
die letzten, sich ins Herz schreiben, und er wird in richtiger
Weise die Poesie mit der Religion verknüpfen. Es ist weit
gefehlt, zu glauben, nur Kirchenlieder und andere, einen
offenkundig religiösen Charakter tragende Gedichte könnten
von Wert für die religiöse Herzensbildung sein, fühlt man
doch auch aus solchen Dichtungen, welche nicht unmittelbar
mit der Religion sich berühren, den christlichen Geist heraus,
der alles adelt; der rechte Lehrer weiß aus jedem echten
Gedicht Kapital für die sittliche, religiöse Erziehung seiner
Zöglinge zu schlagen, ohne daß er sich verleiten läßt, die
unnatürlichen Moralgedichte eigens zu diesem Zwecke her
anzuziehen. Die letzteren verhalten sich zu der rechten Dich
tung wie schale Getränke zu erfrischendem Nektar. Ohnehin
wird der Lehrer auch merken, was auf die Kinder Eindruck
macht, er kann in ihren freudig glänzenden Augen lesen:
Das war schön! oder in der gleichgültigen Miene die völlige
Eindrucklosigkeit dessen verspüren, was nicht Kunst, sondern
Künstelei ist. (Fortsetzung folgt.)
Jugend- und Volksspiele in ihrer socinlrn
Bedeutung.
Das Ebenmaß körperlicher und geistiger Entwickelung
im Einzelleben zu wahren, bleibt ein Ideal, dem sich nur
wenige Menschen annähern können. Die ganze Volks
erziehung aber auf diesen Grundsatz zu stellen, hat noch
kein Volk vermocht und in der Gegenwart auch kaum ver
sucht. In den unteren Klassen werden die körperlichen
Kräfte frühzeitig entwickelt, um schon vom jugendlichen
Alter an ganz in den Dienst des Erwerbes gestellt zu
werden — ein Übermaß einseitiger körperlicher Arbeit ohne
jedwede veredelnde Wirkung; in den oberen Klaffen ist der
Zweck der Erziehung ausschließlich geistige Bildung, und
die Lebensaufgabe fortdauernde Anspannung der geistigen
Kräfte — ein Übermaß der Kopfarbeit, dem das Gegen
gewicht fehlt. Die natürliche Folge ist, daß dort die geistige
und hier die körperliche Arbeit gering geschätzt wird und
daß zu den vielen die Klaffen trennenden Lebensverhältniffen
ein neues hinzukommt. Wie man mit Fortbildungsschulen,
Volksbibliotheken, Lesevereinen u. s. w. dort der einseitig
körperlichen Ausbildung entgegenwirken will, so wird hier
durch ein dem Lehrplan lose angeklebtes System des Turn
unterrichtes und durch freiwillige Sportübungen der Versuch
gemacht, dem Übel wenigstens die schärfsten Spitzen abzu
brechen. Aber wie weit sind wir davon entfernt, daß eine
gleiche Berücksichtigung der körperlichen und geistigen Durch
bildung der ganzen Nation oder auch nur einem größeren
Bruchteil der Klassen zu gute kommt! Das ist aus vielen
Gründen zu bellagen. Denn unter jenen Kräften, welche
auf der Grundlage der Sicherung der materiellen Existenz
das Gebäude reineren Lebensglückes aufzurichten vermögen,
ist neben der Bildung des Gemütes die Harmonie körper
licher und geistiger Gesundheit die wirksamste. Und wenn
der tiefere Gedanke aller Socialpolitik der ist, daß die
materielle Verbesserung der Lage der unteren Klaffen, wie
der gesamten wirtschaftlichen Organisation das Mittel eines
gehobenen und geläuterten Lebensgenusses sein soll, dann
wird man vom socialpolitischen Standpunkte alle Be
strebungen mit Aufmerksamkeit verfolgen müssen, welche
diese Kräfte zu wecken imstande sind. Dazu gehören auch
jene, welche der körperlichen Erziehung des Volkes einen
größeren Raum gewidmet sehen wollen, und zwar nicht
etwa bloß als einem Mittel physischer Stärkung, sondern
vor allem als einer Quelle der Lebensfreude und der Er
quickung im geselligen Verkehr.
Seit Jahrzehnten hat sich in dieser Richtung das
Turnwesen Boden geschaffen. Wer in den deutschen Turn
vereinen verkehrt, wird leicht die Beobachtung machen
können, daß das Bedürfnis nach solcher geselliger Bethäti
gung der körperlichen Kraft auch in jenen Kreisen groß ist,
denen es an Übung des Körpers in ihrem Berufe sicherlich
nicht fehlt. Junge Arbeiter und Gewerbetreibende stellen
die große Masse der Mitglieder unserer Turnvereine. Das
Turnen ist hier nicht, wie in vielen Fällen der oberen
Klassen oder bei den meisten Erwachsenen eine vom Arzt
verordnete Heilgymnastik, sondern der Ausdruck einer frisch
pulsierenden Lebenskraft, deren Träger in fröhlichem Wett
kampf ihr Können messen wollen und in der Kraft, Ge
wandtheit und zähen Ausdauer Eigenschaften erblicken, die
zu erwerben sich der Mühe lohnt. Es ist nicht das gym
nastische Virtuosentum oder die athletische Kraftanstrengung,
die angestrebt wird, denn diese sind von wenigen zu er
reichen. Die Grundlage unserer Turnvereine ist die Freude