Full text: Katholische Lehrerzeitung - 4.1893 (4)

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Katholische Lehrerzeitung. 1893. Nr. 22. 
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an der Körperübung im geselligen Verein, an die sich 
Wetteifer, Scherz und Erheiterung anschließen, und dies 
alles im Rahmen einer freien, sich selbst verwaltenden 
Organisation. Niemand, der das Leben in diesen Turn 
vereinen mitgemacht hat, wird verkennen, daß hier viel 
Nützliches und Schönes geleistet wird, sowohl in der Aus 
bildung körperlicher Tüchtigkeit, wie in der Disciplinierung I 
der Mitglieder, in der freien Unterordnung unter die aner 
kannten Satzungen und selbst bestellten leitenden Persön 
lichkeiten. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die Mischung 
socialer Gruppen und verschiedener Bevölkerungsschichten 
innerhalb dieser Turnvereine auf dem festen Grunde gemein 
samer und gleichartiger Bethätigung vor sich geht und 
durch den persönlichen Verkehr und die gewährte gegen 
seitige Anerkennung ein wertvolles Element socialer An 
näherung bildet. Seit einiger Zeit aber tritt in Deutschland 
neben das Turnen eine Bewegung, die mir für den oben 
angedeuteten Zweck der Volkserziehung eine noch größere 
Bedeutung zu besitzen scheint, die Bewegung zur Förderung 
der Jugend- und Volksspiele. 
Bis vor wenigen Jahren hat das Jugendspiel, nament 
lich das Ballspiel in seinen unendlich verschiedenen Formen, 
nur in der Stille und im Verborgenen geblüht, aus dem 
unauslöschlichen Triebe der lebensfrohesten Jahre heraus 
immer von neuem geboren, aber als ein Pflänzchen von 
kurzer Lebenszeit, das nach wenigen Jahren abstarb und 
schon in den späteren Jünglingsjahren keinen Boden mehr 
für sein Gedeihen fand. Einer eingehenden Pflege hatte 
es sich bei uns von keiner Seite zu erfreuen. Dies ist seit 
einiger Zeit anders geworden. Bor mir liegt der 2. Jahr 
gang des Jahrbuches des Centralausschusses zur Förderung 
der Jugend- und Volksspiele in Deutschlands der neben 
vielen lesenswerten Berichten über die praktische Ausübung 
des Jugendspieles in deutschen Städten, sowie über die 
Verhandlungen und Vorträge in den Sitzungen des Central 
ausschusses auch die Ergebnisse einer Umfrage enthält, die 
im Jahre 1892 über das Vorhandensein und den Betrieb 
des Jugend- und Volksspiels in den deutschen Städten mit 
über 5000 Einwohnern angestellt wurde. Von den in 
Betracht kommenden über 700 Städten hatten 587 Berichte 
eingeschickt und nach diesen ist in 376 Städten das Jugend 
spiel eingeführt. Das ist mit Rücksicht darauf, daß es sich 
um eine bis vor kurzem ganz unorganisierte Bewegung 
handelt, ein verhältnismäßig günstiges Ergebnis. Die 
Regel ist die, daß in den Schulen die Turn- oder Klassen 
lehrer mit ihren Schülern den Spielplatz besuchen, der 
entweder von der Stadt oder von Vereinen zur Verfügung 
gestellt ist. seltener in unmittelbarer Verbindung mit der 
Schule oder Turnanstält steht. Häufig wurde auch seitens 
der militärischen Behörden der Exerzierplatz zur Verfügung 
gestellt. In keineni Falle fehlte es an der Möglichkeit, den 
Raum für die Spieler zu gewinnen. Die Kosten für die 
notwendigsten Spielgeräte sind verhältnismäßig geringe und 
kommen bei der Frage der Spielorganisation gar nicht in 
Betracht, da sie mit Leichtigkeit von jeder Spielergruppe 
' Herausgegeben von E. v. Schenkendorff und Or. moä. 
F. A. Schmidt, Hannover-Linden 1893,193 S. Pr.2,50 Ji. 
I getragen werden können. Das Entscheidende liegt darin, 
die Zeit für die Abhaltung der Spiele und die entsprechende 
i Leitung zu gewinnen, um den Spielenden jene Schulung 
beizubringen, welche der Spielübung erst ihren Wert und 
den Spielern die Freude an der Bethätigung verleiht. 
Das sind zwei Fragen, mit denen sich infolge des Interesses, 
das die Jugendspiele auf sich gezogen haben, heute bereits 
die Schulverwaltungen beschäftigen müssen. Denn die Agita- 
tation und auch die thatsächliche Ausbreitung der Jugend 
spiele hat wesentlich auf dem Boden der Schule, und zwar 
vor allem der Mittelschulen (Gymnasium und Realschule) 
stattgefunden. Sie wird, ohne das Turnen zu schädigen, 
noch weitergehen dürfen und müssen, bis an allen Schulen 
neben der methodischen Muskel- und Körperübung des 
Turnens das den ganzen jungen Menschen mit Körper 
und Sinn erfassende Bewegungsspiel im Freien eine aner 
kannte Einrichtung geworden ist. Das Turnen ist die 
strengere Körperübung, aber eben darum nicht in dem 
Maße allen zugänglich, wie das Jugendspiel, und durch 
das letztere wird daher eine große Zahl von Knaben und 
Mädchen zur Körperübung herangezogen werden können, 
die ohne das Spiel darauf verzichtete. 
Aber die größere Bedeutung des Jugendspiels liegt 
darin, daß es über die Schulen hinaus als ein Mittel der 
körperlichen Erziehung des Volkes benutzt werden kann. 
Die Bethätigung im Zusammenwirken einer größeren Zahl, 
die Erweiterung des Kreises der Thätigen durch die Mög 
lichkeit, verschiedene Altersklassen und Kräfte zusammen 
zufassen, die Notwendigkeit im Freien unter Beobachtung 
und Teilnahme von Zuschauern zu üben, sind Momente, 
welche, ganz abgesehen von der Technik des Betriebes selbst, 
das Bewegungs spiel gegenüber dem Turnen charakterisieren 
und es von vorneherein auf eine viel breitere Grundlage, 
stellen. An solchen Spielen vermag sich — wir brauchen 
nur an England zu erinnern — eine allgemeine Teilnahme 
des Volkes zu entzünden. Sie greifen in viel höhere 
Altersklassen herein und erwecken auch in dem Zuschauer 
ein lebendiges Interesse, das sich in der Folge auf die 
Fürsorge für körperliche Thätigkeit überhaupt überträgt. 
Sie haben neben der Anmut und Frische der körperlichen 
Bewegung den Reiz des freien Zusammenwirkens inner 
halb bestimmter Regeln, den des Verlustes oder Sieges für 
sich. In höherem Maße als bei deni schulmäßigen, den 
Einzelnen stets zu genau umschriebener Aufgabe heran 
ziehenden Turnen ist die Freiheit der Übenden gewahrt 
und die mannigfachen Wechselfälle des Spieles wecken eine 
unschuldige Freude und Heiterkeit, die selbst bereits Be 
friedigung gewährt. Nach den Erfahrungen anderer Völker 
bleibt die thätige Teilnahme an den Bewegungsspielen 
länger rege als die an dem anstrengenderen Turnen, und 
nur bei einer solchen in die Höhe, wie in die Breite 
gehenden, viele Altersklassen und große Bevölkerungskreise 
umfassenden Bewegung ist zu erwarten, daß sie wirklich 
allmählich das ganze Volk umfaßt und hierdurch die feste 
Sitte und Lebensgewohnheit ausprägt, welche schließlich die 
Fürsorge für körperliche Tüchtigkeit ebenso selbstverständlich 
erscheinen läßt, wie es heute die für Reinlichkeit oder für 
die Erwerbung der elementaren Kenntnisse ist.
	        
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