697
Katholische Lehrerzeitung. 1893. Nr. 22.
698
an der Körperübung im geselligen Verein, an die sich
Wetteifer, Scherz und Erheiterung anschließen, und dies
alles im Rahmen einer freien, sich selbst verwaltenden
Organisation. Niemand, der das Leben in diesen Turn
vereinen mitgemacht hat, wird verkennen, daß hier viel
Nützliches und Schönes geleistet wird, sowohl in der Aus
bildung körperlicher Tüchtigkeit, wie in der Disciplinierung I
der Mitglieder, in der freien Unterordnung unter die aner
kannten Satzungen und selbst bestellten leitenden Persön
lichkeiten. Es ist auch nicht zu verkennen, daß die Mischung
socialer Gruppen und verschiedener Bevölkerungsschichten
innerhalb dieser Turnvereine auf dem festen Grunde gemein
samer und gleichartiger Bethätigung vor sich geht und
durch den persönlichen Verkehr und die gewährte gegen
seitige Anerkennung ein wertvolles Element socialer An
näherung bildet. Seit einiger Zeit aber tritt in Deutschland
neben das Turnen eine Bewegung, die mir für den oben
angedeuteten Zweck der Volkserziehung eine noch größere
Bedeutung zu besitzen scheint, die Bewegung zur Förderung
der Jugend- und Volksspiele.
Bis vor wenigen Jahren hat das Jugendspiel, nament
lich das Ballspiel in seinen unendlich verschiedenen Formen,
nur in der Stille und im Verborgenen geblüht, aus dem
unauslöschlichen Triebe der lebensfrohesten Jahre heraus
immer von neuem geboren, aber als ein Pflänzchen von
kurzer Lebenszeit, das nach wenigen Jahren abstarb und
schon in den späteren Jünglingsjahren keinen Boden mehr
für sein Gedeihen fand. Einer eingehenden Pflege hatte
es sich bei uns von keiner Seite zu erfreuen. Dies ist seit
einiger Zeit anders geworden. Bor mir liegt der 2. Jahr
gang des Jahrbuches des Centralausschusses zur Förderung
der Jugend- und Volksspiele in Deutschlands der neben
vielen lesenswerten Berichten über die praktische Ausübung
des Jugendspieles in deutschen Städten, sowie über die
Verhandlungen und Vorträge in den Sitzungen des Central
ausschusses auch die Ergebnisse einer Umfrage enthält, die
im Jahre 1892 über das Vorhandensein und den Betrieb
des Jugend- und Volksspiels in den deutschen Städten mit
über 5000 Einwohnern angestellt wurde. Von den in
Betracht kommenden über 700 Städten hatten 587 Berichte
eingeschickt und nach diesen ist in 376 Städten das Jugend
spiel eingeführt. Das ist mit Rücksicht darauf, daß es sich
um eine bis vor kurzem ganz unorganisierte Bewegung
handelt, ein verhältnismäßig günstiges Ergebnis. Die
Regel ist die, daß in den Schulen die Turn- oder Klassen
lehrer mit ihren Schülern den Spielplatz besuchen, der
entweder von der Stadt oder von Vereinen zur Verfügung
gestellt ist. seltener in unmittelbarer Verbindung mit der
Schule oder Turnanstält steht. Häufig wurde auch seitens
der militärischen Behörden der Exerzierplatz zur Verfügung
gestellt. In keineni Falle fehlte es an der Möglichkeit, den
Raum für die Spieler zu gewinnen. Die Kosten für die
notwendigsten Spielgeräte sind verhältnismäßig geringe und
kommen bei der Frage der Spielorganisation gar nicht in
Betracht, da sie mit Leichtigkeit von jeder Spielergruppe
' Herausgegeben von E. v. Schenkendorff und Or. moä.
F. A. Schmidt, Hannover-Linden 1893,193 S. Pr.2,50 Ji.
I getragen werden können. Das Entscheidende liegt darin,
die Zeit für die Abhaltung der Spiele und die entsprechende
i Leitung zu gewinnen, um den Spielenden jene Schulung
beizubringen, welche der Spielübung erst ihren Wert und
den Spielern die Freude an der Bethätigung verleiht.
Das sind zwei Fragen, mit denen sich infolge des Interesses,
das die Jugendspiele auf sich gezogen haben, heute bereits
die Schulverwaltungen beschäftigen müssen. Denn die Agita-
tation und auch die thatsächliche Ausbreitung der Jugend
spiele hat wesentlich auf dem Boden der Schule, und zwar
vor allem der Mittelschulen (Gymnasium und Realschule)
stattgefunden. Sie wird, ohne das Turnen zu schädigen,
noch weitergehen dürfen und müssen, bis an allen Schulen
neben der methodischen Muskel- und Körperübung des
Turnens das den ganzen jungen Menschen mit Körper
und Sinn erfassende Bewegungsspiel im Freien eine aner
kannte Einrichtung geworden ist. Das Turnen ist die
strengere Körperübung, aber eben darum nicht in dem
Maße allen zugänglich, wie das Jugendspiel, und durch
das letztere wird daher eine große Zahl von Knaben und
Mädchen zur Körperübung herangezogen werden können,
die ohne das Spiel darauf verzichtete.
Aber die größere Bedeutung des Jugendspiels liegt
darin, daß es über die Schulen hinaus als ein Mittel der
körperlichen Erziehung des Volkes benutzt werden kann.
Die Bethätigung im Zusammenwirken einer größeren Zahl,
die Erweiterung des Kreises der Thätigen durch die Mög
lichkeit, verschiedene Altersklassen und Kräfte zusammen
zufassen, die Notwendigkeit im Freien unter Beobachtung
und Teilnahme von Zuschauern zu üben, sind Momente,
welche, ganz abgesehen von der Technik des Betriebes selbst,
das Bewegungs spiel gegenüber dem Turnen charakterisieren
und es von vorneherein auf eine viel breitere Grundlage,
stellen. An solchen Spielen vermag sich — wir brauchen
nur an England zu erinnern — eine allgemeine Teilnahme
des Volkes zu entzünden. Sie greifen in viel höhere
Altersklassen herein und erwecken auch in dem Zuschauer
ein lebendiges Interesse, das sich in der Folge auf die
Fürsorge für körperliche Thätigkeit überhaupt überträgt.
Sie haben neben der Anmut und Frische der körperlichen
Bewegung den Reiz des freien Zusammenwirkens inner
halb bestimmter Regeln, den des Verlustes oder Sieges für
sich. In höherem Maße als bei deni schulmäßigen, den
Einzelnen stets zu genau umschriebener Aufgabe heran
ziehenden Turnen ist die Freiheit der Übenden gewahrt
und die mannigfachen Wechselfälle des Spieles wecken eine
unschuldige Freude und Heiterkeit, die selbst bereits Be
friedigung gewährt. Nach den Erfahrungen anderer Völker
bleibt die thätige Teilnahme an den Bewegungsspielen
länger rege als die an dem anstrengenderen Turnen, und
nur bei einer solchen in die Höhe, wie in die Breite
gehenden, viele Altersklassen und große Bevölkerungskreise
umfassenden Bewegung ist zu erwarten, daß sie wirklich
allmählich das ganze Volk umfaßt und hierdurch die feste
Sitte und Lebensgewohnheit ausprägt, welche schließlich die
Fürsorge für körperliche Tüchtigkeit ebenso selbstverständlich
erscheinen läßt, wie es heute die für Reinlichkeit oder für
die Erwerbung der elementaren Kenntnisse ist.