Blätter für Anstaltspädagogik.
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Die Einführung darf aber nicht un
vermittelt kommen. Die Seele der
Jungens muß eigens vorbereitet werden.
Die Zöglinge dürfen nicht das Gefühl
haben, die Einführung geschieht etwa als
ein Ködermittel des Vorgesetzten, sich
dadurch ihre Willfähigkeit zu erschmeicheln.
In ihnen muß das Verlangen nach einem
Versuch selbst rege gemacht werden.
Gewiß steckt ja schon ein Freiheitsbe
dürfnis in ihnen; dies braucht keine eigene
Anregung. Aber die Einlenkung des
Freiheitsdranges in eine zweckentspre
chende soziale Ordnungs-Form gibt sich
nicht von selbst. Dieses Verbünden von
Freiheit und Bindung bleibt pädagogische
Forderung auch beim Selbstregiment;
Verständnis für diese Notwendigkeit aber
im Zögling zu erreichen, das ist der
springende Punkt. Wie dies geschehen
kann, darauf müssen sich unsere Bemü
hungen richten.
Zur Praxis der Einführung.
Ich skizziere eine Möglichkeit, die
sich auf praktische Erfahrung stützt:
Erstes Stadium: An einem Sonntag
nachmittag, — es ist der erste Sonntag
nach Beginn eines neuen Schuljahres —
gehe ich mit meinen Zöglingen spazieren,
hinaus vor die Stadt. Ich halte mich
bei den ältesten auf, zwei 17jährigen.
Im Gespräch lenke ich auf das Thema:
„Ferien" und lasse mir davon erzählen.
Es ist nicht schwer, mit einigen Sätzen
auf den Gegensatz der Ferienfreiheit und
der jetzigen Gebundenheit überzulenken
und das Geständnis abzulocken, daß die
letztere doch dann und wann drückend zu
Bewußtsein komme. „Wir wären im all
gemeinen nicht ungern im Seminar; es
hat mancherlei Vorteile — wenn nur
das eine nicht wäre, daß man den ganzen
Tag immer kommandiert wird und nie
und nirgends sein freier Herr ist!"
Hier setze ich ein, um an die günstige
Grundstimmung der Zöglingsseelen an
zuknüpfen.
„Gewiß! ich sehe selber ein, daß dies
Jungens, wie ihr zwei seid, schwer fallen
mag. Wegen solchen Unmuts will ich
euch nicht tadeln. Im Gegenteil, ich
würde euch tadeln, wenn ihr nie den
Drang nach Selbständigkeit hättet."
Die Jungens empfinden dieses Ver
ständnis für ihre Jnnenwünsche ange
nehm: das sichert mir ihre Aufmerk
samkeit; nun kann ich ihr Willens-
Interesse auf das Selbstregiment lenken.
„Uebrigens seid ihr ja selber schuld,
daß man euch unter stetiger Aufsicht hält."
Das reizt die Neugierde und lockt
leise Widerspruchsstimmung hervor, was
die Aufmerksamkeit stärkt.
„Ihr nützt ja nie die Gelegenheit aus,
zu beweisen, daß ihr allmählich reifer
geworden seid für mehr Freiheit."
Erhöhte Reizung der Neugierde und
des Widerspruchs!
„Wir haben ja keine Gelegenheiten!
Wie sollen wir da einen Beweis er
bringen können?"
„Hm! Da seid ihr wirklich kurzsichtig.
Nicht bloß einmal im Tag, sondern wie
derholt gibt es solche Gelegenheiten. Aber
wenn ich euch auch die Augen öffne, es nützt
ja doch nichts. Ihr benützt die Gelegen
heiten ja doch nicht."
Die Widerspruchsstimmung wird aufs
höchste erregt, das Verlangen nach Mit
teilung gesteigert, das Bedürfnis, den
Beweis der Reife zu erbringen, wachge
rufen.
„Herr Präfekt! Da glaube ich, täuschen
Sie sich doch. Zeigen Sie uns doch die
Gelegenheiten!" —
Nun weise ich auf die verschiedenen
Möglichkeiten hin, wie die ältern Zög
linge die jüngern durch eigenes gutes
Beispiel günstig beeinflussen könnten. In
dieser Beeinflussung liege der Beweis,
daß sie für eine gewisse Freiheit reif ge
worden seien. Wenn sie diesen geliefert
hätten, dann wüßte ich schon ein Mittel,
ihrer Reife entgegenzukommen.
Und jetzt erzähle ich ihnen, ich hätte
in einem Buche gelesen, wie in Amerika
die Schüler Selbstregiment führten und
füge hinzu, daß mich bei der Lektüre
ein gewisser Neid angekommen sei auf
die amerikanischen Erzieher. So etwas
könnten die deutschen Jungens nicht!
Dadurch reize ich das Willensinteresse
meiner beiden Zöglinge zum Tatbeweis
ihrer Reife und ihres Könnens. Jetzt
kann ich ihnen eröffnen:
„Ich bin nicht abgeneigt, euch Gelegen
heit zu erwirken, das Selbstregiment zu
betätigen. Aber zuvor müßt ihr mir die
nachhaltige Probe bestehen, daß ihr Sinn
für Zucht und Ordnung habt, was ihr
am besten beweisen könnt durch Ge-