Full text: Blätter für Anstaltspädagogik - 1.1910/11 (1)

Blätter für Anstaltspädagogik. 
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Die Einführung darf aber nicht un 
vermittelt kommen. Die Seele der 
Jungens muß eigens vorbereitet werden. 
Die Zöglinge dürfen nicht das Gefühl 
haben, die Einführung geschieht etwa als 
ein Ködermittel des Vorgesetzten, sich 
dadurch ihre Willfähigkeit zu erschmeicheln. 
In ihnen muß das Verlangen nach einem 
Versuch selbst rege gemacht werden. 
Gewiß steckt ja schon ein Freiheitsbe 
dürfnis in ihnen; dies braucht keine eigene 
Anregung. Aber die Einlenkung des 
Freiheitsdranges in eine zweckentspre 
chende soziale Ordnungs-Form gibt sich 
nicht von selbst. Dieses Verbünden von 
Freiheit und Bindung bleibt pädagogische 
Forderung auch beim Selbstregiment; 
Verständnis für diese Notwendigkeit aber 
im Zögling zu erreichen, das ist der 
springende Punkt. Wie dies geschehen 
kann, darauf müssen sich unsere Bemü 
hungen richten. 
Zur Praxis der Einführung. 
Ich skizziere eine Möglichkeit, die 
sich auf praktische Erfahrung stützt: 
Erstes Stadium: An einem Sonntag 
nachmittag, — es ist der erste Sonntag 
nach Beginn eines neuen Schuljahres — 
gehe ich mit meinen Zöglingen spazieren, 
hinaus vor die Stadt. Ich halte mich 
bei den ältesten auf, zwei 17jährigen. 
Im Gespräch lenke ich auf das Thema: 
„Ferien" und lasse mir davon erzählen. 
Es ist nicht schwer, mit einigen Sätzen 
auf den Gegensatz der Ferienfreiheit und 
der jetzigen Gebundenheit überzulenken 
und das Geständnis abzulocken, daß die 
letztere doch dann und wann drückend zu 
Bewußtsein komme. „Wir wären im all 
gemeinen nicht ungern im Seminar; es 
hat mancherlei Vorteile — wenn nur 
das eine nicht wäre, daß man den ganzen 
Tag immer kommandiert wird und nie 
und nirgends sein freier Herr ist!" 
Hier setze ich ein, um an die günstige 
Grundstimmung der Zöglingsseelen an 
zuknüpfen. 
„Gewiß! ich sehe selber ein, daß dies 
Jungens, wie ihr zwei seid, schwer fallen 
mag. Wegen solchen Unmuts will ich 
euch nicht tadeln. Im Gegenteil, ich 
würde euch tadeln, wenn ihr nie den 
Drang nach Selbständigkeit hättet." 
Die Jungens empfinden dieses Ver 
ständnis für ihre Jnnenwünsche ange 
nehm: das sichert mir ihre Aufmerk 
samkeit; nun kann ich ihr Willens- 
Interesse auf das Selbstregiment lenken. 
„Uebrigens seid ihr ja selber schuld, 
daß man euch unter stetiger Aufsicht hält." 
Das reizt die Neugierde und lockt 
leise Widerspruchsstimmung hervor, was 
die Aufmerksamkeit stärkt. 
„Ihr nützt ja nie die Gelegenheit aus, 
zu beweisen, daß ihr allmählich reifer 
geworden seid für mehr Freiheit." 
Erhöhte Reizung der Neugierde und 
des Widerspruchs! 
„Wir haben ja keine Gelegenheiten! 
Wie sollen wir da einen Beweis er 
bringen können?" 
„Hm! Da seid ihr wirklich kurzsichtig. 
Nicht bloß einmal im Tag, sondern wie 
derholt gibt es solche Gelegenheiten. Aber 
wenn ich euch auch die Augen öffne, es nützt 
ja doch nichts. Ihr benützt die Gelegen 
heiten ja doch nicht." 
Die Widerspruchsstimmung wird aufs 
höchste erregt, das Verlangen nach Mit 
teilung gesteigert, das Bedürfnis, den 
Beweis der Reife zu erbringen, wachge 
rufen. 
„Herr Präfekt! Da glaube ich, täuschen 
Sie sich doch. Zeigen Sie uns doch die 
Gelegenheiten!" — 
Nun weise ich auf die verschiedenen 
Möglichkeiten hin, wie die ältern Zög 
linge die jüngern durch eigenes gutes 
Beispiel günstig beeinflussen könnten. In 
dieser Beeinflussung liege der Beweis, 
daß sie für eine gewisse Freiheit reif ge 
worden seien. Wenn sie diesen geliefert 
hätten, dann wüßte ich schon ein Mittel, 
ihrer Reife entgegenzukommen. 
Und jetzt erzähle ich ihnen, ich hätte 
in einem Buche gelesen, wie in Amerika 
die Schüler Selbstregiment führten und 
füge hinzu, daß mich bei der Lektüre 
ein gewisser Neid angekommen sei auf 
die amerikanischen Erzieher. So etwas 
könnten die deutschen Jungens nicht! 
Dadurch reize ich das Willensinteresse 
meiner beiden Zöglinge zum Tatbeweis 
ihrer Reife und ihres Könnens. Jetzt 
kann ich ihnen eröffnen: 
„Ich bin nicht abgeneigt, euch Gelegen 
heit zu erwirken, das Selbstregiment zu 
betätigen. Aber zuvor müßt ihr mir die 
nachhaltige Probe bestehen, daß ihr Sinn 
für Zucht und Ordnung habt, was ihr 
am besten beweisen könnt durch Ge-
	        
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