Full text: Blätter für Anstaltspädagogik - 1.1910/11 (1)

:: 4 :: 
Blätter für Anstaltspädagogik. 
winnung der jüngern Mitzöglinge für 
die Disziplin durch euer eigenes gutes 
Beispiel. Ob es euch gelingt? Ich 
glaube es euch zumuten zu dürfen!" 
Das Vertrauen reizt zur Probe. 
Die beiden find unter ihren Kameraden 
lebhafte Förderer der ihnen als Ziel 
gesteckten Aufgaben. 
Die „Isolierung", von der Foerster 
spricht, ist somit umgangen. Die Seelen 
meiner beiden Zöglinge werden „einge 
bettet" in das Gedanken- und Willens 
bett der Disziplin-Anerkennung und Dis 
ziplin-Förderung. Wenn ich fie einmal 
so weit habe, dann ist vorgebaut. 
Jetzt ist es noch nötig, den Jungens be 
hilflich zu sein in ihrer Probezeit. Dann 
und wann lasse ich mir berichten (nicht 
fordernd, sondern ermunternd), wie es 
ihnen zumute sei; wie die Probearbeit 
ihnen behage; welche Schwierigkeiten sich 
allenfalls ergäben; warum sie dieselben 
so groß fänden. Ich berate mit ihnen 
Mittel und Wege, wie die Schwierig 
keiten überwunden werden könnten. 
Nicht alle Zöglinge lassen sich die Be 
einflussung durch Kameraden gefallen. 
Es setzt eine mehrmonatliche „sittliche 
Lebenskunde" und Willenskultivierung ein 
mit dem Zentralgedanken: keine Freiheit 
ohne Bindung! 
Erst dann ist der Boden für den Saat- 
Aufgang bereitet; er hat die nötigen 
Nährkräfte zur Verfügung. 
Haben die Jungens die Probezeit glück 
lich bestanden (und nebenbei ahnen ge 
lernt, daß es auch sittliche Probe 
arbeiten, Probearbeiten lebenskundlichem 
Inhalts, nicht bloß Unterrichts-Probe 
arbeiten gibt!), dann mag die Zeit zum 
Eintritt ins zweite Stadium gekommen 
sein. 
Das zweite Stadium umfaßt die tat 
sächliche Einführung des Selbstregiments 
bei den ältern Zöglings-Jahrgängen. 
Am besten überläßt man die Organisation 
unächst dem Versuchsgeschick der erst 
earbeiteten Zöglinge. Sie sollen einen 
Plan entwerfen, ihn mit den Vorgesetzten 
besprechen (die Vorgesetzten können bei 
solchen Unterredungen manchen wertvollen 
Einblick in die Jugendseelen tun) und 
nach deren Begutachtung die Kameraden 
dafür gewinnen. Erst wenn sich bei diesen 
das lebhafte Verlangen nach Einführung 
zu einer förmlichen Bitte verdichtet, 
dann kann das Selbstregiment als V e r - 
suchs-Geschenk probeweise ge 
währt werden. Ein psychologisch ähn 
lich wie beim ersten Stadium angelegter 
Appell an die Beweisung ihrer Reife 
wird gute Wirkung tun. 
Man darf nur nicht gleich Wunder 
wirkungen von der Einführung erwarten. 
Es wird anfänglich noch mancher Mißton 
bemerkbar werden; aber mit Geduld und 
Liebe, die nicht gleich verzagt, spottet 
oder gleich bei Unstimmigkeiten mit Ent 
zug der Gabe droht, wird sich der Segen 
nach und nach fühlbar machen. — I. W. 
Lebenskunde. 
Wer ist besser in der Lage, eine solche 
zu bieten, wenn nicht die Anstaltspäda 
gogen? Foerster hat schon dankenswerte 
Anregungen gegeben; aber sie müssen 
noch für die Anstaltsverhältnisse ver 
ändert und insbesondere vom religiösen 
Standpunkt aus ergänzt und vertieft 
werden. Die Anstaltsdisziplin stellt an 
den Zögling verschiedene Forderungen, 
deren Berechtigung nicht ohne weiteres 
von ihm eingesehen wird. Soll er 
nun einfach dem starren Machtbefehl sich 
beugen müssen oder nicht auch innerlich 
dafür gewonnen werden? Hier tritt eben 
dann die Lebenskunde ein, die anknüpft 
an die Gefühle und Strebungen des 
Zöglings, diese ordnet, veredelt, in rich 
tige Bahnen lenkt, zur Mithilfe an ge- 
schmack- und willenbildenden Aufgaben 
anreizt. Freilich ist es nicht mit einem 
mehr oder minder kunstvoll ausgearbei 
teten Vortrag getan. Da muß schon 
auch die Selbsttätigkeit der Zöglinge 
angespornt werden; sie müssen mitreden, 
mitberaten dürfen. Der Vorgesetzte muß 
nur die Diskussion anregen, sie vor all 
zu großer Zersplitterung bewahren, aber 
seine Meinungen nicht immer großspurig 
zur Geltung bringen wollen; das Unter 
richthafte sollte zurücktreten, dagegen die 
lebenfördernde Freundlichkeit in den Vor 
dergrund. 
Es gibt hier für einsichtsvolle Anstalts 
pädagogen anregende Aufgaben. Viele 
Analogieen aus der Unterrichtsdidaktik 
müßten einfach mit glücklichem Griff ge 
wagt werden. Daß auch alle reform 
pädagogischen Fragen hierbei miter 
wogen werden müßten, ist selbstverständ 
lich. Schlagwörter wie: Persönlichkeils-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.