Full text: Pharus - 6.1915, Halbjahrband 1 (6)

« 156 :: Unterrichtliche Willensbildung. 
gefehlt. Da hat z. B. der Lehrer den Kindern des zweiten Schuljahres als Schnell 
rechenübung die Aufgabe genannt: 15 + 6. Dieser akustische Eindruck soll nun 
— die vorhergehende Vorführung des Verfahrens und notwendige erste Uebung 
schon vorausgesetzt — jene Willenskraft auslösen, welche während der kurzen Reak 
tionszeit zu einer Zusammendrängung der Aufmerksamkeit um die hier in Frage 
kommenden geistigen Prozesse notwendig ist. Wie oft kommt es aber vor, daß 
diese Spannung unterbrochen wird, indem der Lehrer bald nach Stellung der 
Aufgabe eine Bemerkung anschließt, etwa: Das ist ja leicht, oder: Nun, das 
werdet ihr doch können! Man übersehe nicht, welch unheilvollen Einfluß auf die 
Ausnützung der Reaktionszeit solche und ähnliche Zwischenbemerkungen ausüben. 
Kinder, die fortgesetzt solchen Einflüssen ausgesetzt find, kommen nie dazu, ihre 
gesamte Willenskraft auf einen festen Punkt zu konzentrieren. Sie nützen die 
kurze Spanne der Reaktionszeit nicht aus, sie machen wohl einen Ansatz, der 
Lösung nachzugehen, beginnen aber ihren Weg wieder von vorn, und so trägt ein 
solches Verfahren ungemein viel dazu bei, die Kinder flatterhaft, zerstreut und 
willensschwach zu machen. Hier hat das bewährte Wort des Schulpraktikers Kehr 
immer noch seine volle Geltung: „Wenn die Kinder lernen sollen, muß der Lehrer 
schweigen können." Ueberhaupt hat vielfach das Wort zurückzutreten, wo es sich 
darum handelt, einen Eindruck auf die Kinder wirken zu lassen, und wo der Weg 
vom Eindruck zum Ausdruck von den Kindern selbständig gefunden werden soll. 
Auch aus diesem Grunde ist dem zwecklosen Fragen Einhalt zu tun. Lehrer, 
welche viel in die Kinder hineinfragen und immer wieder die selbständige Gedanken 
arbeit der Kinder durch Fragen unterbrechen, werden nie willenskräftige Schüler, 
Schüler, welche auf einen Punkt ihre gesamte Kraft verwenden können, heranbilden. 
Die für das praktische Leben bedeutsamen Willenshandlungen stellen sich zu 
allermeist als Kombinationen einfacher Willensakte dar. Es ist für den ge 
schulten Willen bezeichnend, daß es für ihn nur eines Antriebes bedarf, wenn 
die gesamte Willenshandlung ausgeführt werden soll. Wäre es notwendig, für jede 
Teilhandlung einen besonderen Antrieb eintreten zu lassen, so würde die Ausführung 
der Handlung von einer unfruchtbaren Schwerfälligkeit begleitet sein. Die Schule 
soll die Befähigung zur selbständigen Verbindung einzelner Teilhandlungen möglichst 
oft pflegen. Für den Rechtschreibunterricht ist beispielsweise — wir stehen bei der 
Behandlung des ie — eine dreifache Tätigkeit auszuführen: es find zunächst aus 
einem Prosastücke Wörter mit ie herauszusuchen; diese Wörter sind in das Tagebuch 
zu schreiben und die Buchstabenverbindung ie ist zu unterstreichen. Für alle diese 
drei Einzeltätigkeiten ist freilich in der ersten Zeit je ein Einzelantrieb notwendig, 
sodaß der Lehrer wohl zunächst Teilbefehle geben muß: Sucht das nächste Wort 
mit ie! Schreibt es auf! Unterstreicht das ie! Willensbildenden Einfluß aber 
gewinnt der Unterricht erst dann, wenn der Schüler angeleitet wird, diese drei 
Tätigkeiten in selbständiger Verbindung auszuführen. Man unterfchätze 
nicht, welch reiche Gelegenheit zur Entfaltung von Willensbetätigung darin liegt, 
daß der Schüler immer wieder sich selbst aufraffen und ohne besondere Einzelbefehle 
die verschiedenartige Tätigkeit des Suchens und Lesens, des Schreibens und des 
Hervorhebens einer Buchstabenverbindung ausführen muß. In Schulklassen, in 
denen nur eine Abteilung unterrichtet wird, liegt geradezu die Gefahr nahe, daß 
der Lehrer, um recht glatte Leistungen zu erzielen, jede einzelne Teilhandlung
	        
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