Full text: Arbeiter-Jugend - 8.1916 (8)

 
Preis > Erſcheint alle 14 Tage. ; ; 
reis der Einzel- Nummer enn . 
Abonnement Miertelfährlich 50 Pf ennig. 3: Berlin,“ 29. Juli 
„Eingetragen in die Poſt - Zeitungslifte: 
Nr. 16 
 
 
Expedition: Buchhandlung Vorwärts, Paul 
Singer. G. m. b. H., Lindenſtraße 3. Alle Zu- 
ſchriften für die Redaktion ſind zu richten 
an Karl Korn, Lindenſtraße 3, Berlin SW. 68 
1916 
 
 
 
Ferien für die Arbeiterjugend! 
Uiährlich, wenn die ſchöne Sommerzeit herannaht, erfaßt 
A den Menſchen ein mächtiges Sehnen nach der Natur; denn 
nur idie Natur kann ihm die verbrauchten Cebensfräfte 
wieder erſeßden. Darum hat jeder tätige Menſch ein Recht auf 
einen längeren Erholung3urlaub im Sommer. 
- . In gewiſſen Kreiſen gehört es ſozuſagen zum gauten Ton, 
in jedem Jahr eine Sommerreiſe zu machen. Hier iſt aber häufig 
weniger das Bedürfnis nach Erholung, als vielmehr der Wunſd) 
nach reizvoller Abwechſlung im Lebensgenuß, manchmal auch das 
Prahlen mit den Mitteln, die einem „ſo etwas geſtatten“, ent- 
ſcheidend. Für dieſe Schichten der Geſellſchaft hat der Krieg, der 
Millionen von Menſchen in der Leben3haltung herabgedrüct hat, 
keine weſentliche Aenderung der Gewohnheiten, ſelten eine Rück- 
fehr zur ſprichwörtlich gewordenen deutſchen Einfachheit herbei- 
geführt. * Ja, die Preſſe des zahlungsfähigen Publikums bemüht 
ſich gegenwärtig kaum weniger eifrig als ſonſt, durch anziehende 
Schilderungen der Annehmlichkeiten und Naturſchönheiten be- 
ſtimmter Sommerfriſchen und Badeorte die Reiſeluſt zu fördern 
und ihr Ziel und Richtung zu geben. 
Einen ganz anderen Wert haben die Jerien für die Arbeiter 
und Arbeiterinnen. JIhnen bedeuten die freien Tage mehr als 
eine Gelegenheit zu koſtſpieligen Vergnügungen. Für alle, die 
an die Tretmühle der täglichen Erwerb3arbeit gefeſſelt jind, für 
die großen Scharen der Kopf- und Handarbeiter ſind die Ferien, 
die zeitweilige Befreiung von drückender unfreiwilliger und un- 
befriedigender Arbeit geradezu eine geſundheitliche Notwendigkeit. 
(E3 iſt ja eine platte Selbſtverſtändlichkeit, daß die Organe 
eines Lebeweſens zur Erneuerung ihrer Kräfte von Zeit zu Zeit 
der Ruhe und. Erholung, der Schonung bedürfen. Daß aber die 
Anwendung dieſer Erkenntnis auf den Menſchen dem reinen Zu- 
fall de3 Beſikes überlaſſen bleibt, darin offenbart ſich die Organ1- 
ſation unſerer Geſellſchaft in ihrer ganzen Mangelhaftigkeit. Die 
Arbeit der Schuljugend wird mit Recht, vielleicht noch nicht in 
'ausreichendem Maße, zeitweiſe durc< längere Ruhepauſen unter- 
"brochen; leider nur iſt der größte Teil der Schulkinder durch die 
wirtſchaftlichen und ſozialen Verhäliniſje der Eltern gehindert, 
von den Ferien den wünſchen5werten Gebrauch zu machen. Der 
ſ<ulentlaſſenen Jugend der Arbeiterſchaft indeſſen fehlt von vorn- 
herein jede Gelegenheit zur Wiederherſtellung ihrer in der Er- 
werbsSarbeit verbrauchten Kräfte. 
Jugend des Bürgertum38 hierzu alle erdenklichen Möglichkeiten 
„zur Verfügung ſtehen, muß ſich die Arbeiterjugend, wenn ſie ſolche 
Wünſche zu äußern wagt, durc< den aus dem dunkelſten Mittelalter 
ſtammenden „Troſt“ ducken laſſen: Lehrjahre ſind keine 
Herrenjahre! Immer aufs neue befeſtigt ſic< ſo der alte Irr- 
tum, daß Strenge und Zwang die beſten Erziehungs8mittel für 
die Jugend ſeien. Auf dieſem Aberglauben beruht auch die weit- 
- verbreitete falſche Auffaſſung, als ob zwar der erwachſene, nicht 
aber der jugendliche Arbeiter Erholung3urlaub nötig habe. Dabei 
iſt naturgemäß der junge, in der Entwicklung begriffene Or- 
ganiSmu3s der Ausſpannung und Auffriſchung in einem weit 
ſtärkeren Maße bedürftig als der Organismus ausgereifter 
Menſchen. 
Dies gilt für die jungen“ Arbeiter und Arbeiterinnen doppelt 
und dreifach in der Krieg8zeit, wo ihre ſchwachen Kräfte täglich 
zu Höchſtleiſtungen angeſpornt werden. Hinzu kommt, daß ſeit 
Krieg3beginn die wichtigſten Beſtimmungen des geſeklichen 
Jugendſ<hußes außer Kraft geſeht ſind. Dieſe zeitweilige Auſ- 
ordentlich ſchädlichen Nachtarbeit zur Folge gehabt. 
die Unfälle mehrten jich; die militäriſche 
Während der gleichaltrigen 
hebung des Jugendſchußes hat ober nicht nur eine allgemeine, 
für Jugendliche beſonders gefährliche Verlängerung der täglichen - 
Arbeitszeit, ſondern auch vielfach die Einführung der ſo außer- 
| Zieht man - 
ferner die Tatſache in Betracht, daß die Ernährung der deutſ<en 
Arbeiterſchaft während des Krieges qualitativ und quantitativ 
ſtark eingeſchränkt werden muß, vaß alſo die in der Arbeit ver- 
brauchten Kräfte nur unvollkommen wieder hergeſtellt werden 
können, ſo laſſen ſich -- von den direkten Kriegsſ<äden, den ſchre>-- 
lichen Menſc<enverluſten und Menſchenverſtümmelungen, ganz ab- 
geſehen -- die Schädigungen, die der Volksgeſundheit aus dieſem 
Krieg3zuſtande erwachſen müſſen, gar nicht ſchwer genug ein-. 
ſc<uäßen. Um ſo dringender iſi der Sc<hußder kom- 
menden Generation, 
Schon unter den ſehr viel günſtigeren wirtſchaftlichen und 
ſozialen Verhältniſſen des Friedens gab der- Geſundheitszuſtand 
der arbeitenden Jugend in Deutſchland zu ernſten Bedenken An- 
laß. In erſchrefendem Maße ſtiegen von Jahr zu Jahr die Be- 
rufskrankheiten unter den jungen Arbeitern und Arbeiterinnen; 
Tauglichkeit der ge- 
ſtellung5pflichtigen jungen Männer war in den Jahren von 
1902/03 bis 1908/09 für die Stadtgeborenen von 54,3 -Proz. auf 
49,8 Proz., für die Landgeborenen von 60 auf 57 Proz. geſunken. 
Die Sterblichkeit8ziffer ſ<nellt für unſere Jugend in ver Zeit 
zwiſchen der Schulentlaſſung und eigentlichen Neife in einer ſteilen 
Kurve empor. Die Sterblichkeit iſt bei unſerer im Alter von 
15 bis 20 Jahren ſtehenden Jugend um etwa 40 Proz. höher als 
bei: der gleichaltrigen Jugend England8, troßdem die Sterblich- 
keit der Schuljugend in England einen tieferen Stand zeigt al3 
die unſerer Schuljugend. Deutlich. beweiſt dieſer Vergleich der 
beiden kapitaliſtiſc<, am höchſten wntwic>elten Länder, daß der 
ſchädliche Einfluß der Erwerb5Sarbeit auf die Ge ſundheit durch 
entſprechende Gegenmaßregeln gemindert werden kann. In Eng- 
land hat man beiſpielsweiſe ſeit Jahren, aljo ſchon zu einer Zeit, 
als an die allgemeine Wehrpflicht noc< nicht zu denken war, dafür 
“geſorgt, der Jugend ſtändige Erholungs8möglichfeiten zu ver- 
ſchaffen, und zwar durch Gewährung eines freien Sonnabend- 
nachmittags und durch einen jährlichen längeren Ferienaufent- 
halt auf dem Lande, in ſogenannten „camps“ (Zeltlagern). Das 
engliſche Beiſpiel, das ſo außerordentlich günſtige Erfolge gezeitigt 
hat, verdiente auch in Deutſchland nachgeahmt zu werden, denn 
der hohe geſundheitliche Wert der Ferien, wenn ſie mit den bei 
der Jugend ſo ſehr beliebten Wanderungen und Bewegungsſpielen 
aus8gefüllt werden, liegt klar zutage. Erfahrungen, die auf ein- 
und mehrwöchigen Wanderungen mit Schulkindern geſammelt 
wurden, haben denn auch außerordentlich günſtige Reſultate er- 
geben. Die Kräftigung der- Geſundheit durch ſolche Wanderungen 
zeigte ſich bei den beteiligten Kindern ſchon nach einigen Tagen 
in einer Zunahme des Körpergewichts, de3 Wachstums, der. 
friihen Geſichtsfarbe, weiterhin in erhöhtem Lerneifſer und 
größerer Schaffens8freudigkeit der Kinder. Acht oder vierzehn Tage 
in der Natur zu verbringen, wäre darum auch für die jungen Ar- 
beiter und Arbeiterinnen nicht nur in geſundheitlicher, ſondern 
auch in geiſtiger und ſittlicher Beziehung ein unſchußbarer Go- 
winn. Nicht allein, daß ſie während dieſer Zeit den ungünſtigen 
geſundheitlichen und ſittlichen Einflüſſen des- Großſtadttreibens 
entzogen ſind: die beſondere Art de3 JZugendwanderns, da3 ja mit 
dem althergebrachten Spazierengehen von einem Wirt3haus ins 
andere nicht verwechſelt werden darf, erfriſ<t Körper und Geiſt 
gleichermaßen und wirkt veredelnd auf das Gemüt der Jugend
	        
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