Einbildungskraft 175
Anlage in ſich trägt. Dieſen Grundſaß wird der Erzieher ſo feſt
halten, daß ihm nicht nur das Gemeinſame, was den Charakter
der menſchlichen Gattung au8macht, ſondern auch das Eigenthüm-
liche jedes Einzelnen heilig bleibt. Er wird es daher nie darauf
anlegen, dieſe Gigenthümlichfeit, oder das, worin bei jedem Ein-
zelnen ſein beſtimmtes, von jedem Andern unterſchiedenes Weſen
beſteht, zu zerſtören. Er weiß, welche Mißgeſtalten aus ſolchen
Verſuchen hervorgegangen und wie bejammerungswürdig junge Leute
ſind , deren Erzieher ſie alle in gleiche Form einzuzwängen und in
ihnen den Charakter zu vertilgen ſucht, welhen die Natur ihnen
aufgedrückt hat. Er hat endlich aus den Erfahrungen der alten
und neuen Zeit gelernt, daß do< endlich die urſprüngliche Natur
wieder hervorbricht und alle Künſtelei der Erziehung oft in einem
Augenbli zerſtört.
Einbildungskraft, Phantaſie. Sie iſt, nächſt der Vernunft,
der edelſte Theil des menſchlichen Geiſtes. Sie gebietet nicht blos
über den ganzen Umfang der äußern und innern Anſc<auungen, die
Fe als Bilder aufbewahrt und wieder erneuert, ſie ſchafft auch
ſelbſtthätig neue Ganze von Bilderreihen, denen nichts in der
Wirklichkeit entſpricht, und die eben ſo, wie die Vernunft die Ideen,
zur Totalität erhebt. =- Die Cultur der Phantaſie in den Jahren
der Jngend iſt für das ganze Leben wichtig, beſonders da die Kraft
dieſes Vermögens nicht immer in gleihem Verhältniß mit den
übrigen Theilen des Vorſtellung8vermögens teht, jo daß oft neben
einem ſehr lebhaften Verſtande und bei einer mit hoher Thätigkeit
fich anfündigenden Vernunft die Phantaſie wenig Feuer und Kraft
verräth, und wieder in andern Individuen die Phantaſie einen
überwiegenden Einfluß auf die andern geiſtigen Vermögen behaup-
tet. Je nachtheiliger nun eine zu ſc<wache und unthätige Phan-
faſie von der einen Seite, und eine zu üppige und aus<weifende
Einbildungskraft von der andern für das ganze Leben ſind, deſto
ſorgfältiger wuß der Erzieher ihre Regungen und Ankündigungen
beobachten und ihre Uebungen leiten. Gewiß kann nichts Febhler-
hafteres gedacht werden, als die Phantaſie in der Jugend zu unter-
drücken, da ſie für den Menſchen in reifern Jahren die Quelle ſo
vieler Freuden und Genüſſe enthält und wir durch ſie nicht nur für
die Schönheiten der Natur, ſondern zunächſt auch für die Reich-
thümer der Kunſt am empfänglichſten werden. Man laſſe Daher
die Phantaſie in ihrer natürlichen Wirkſamkeit und* Kraft; man
gebe ihr fortdauernde Beſchäftigung und Nahrung, aber man ents-
lehne die Stoffe dazu von Gegenſtänden, die der Würde des Men-
ſchen angemeſſen ſind. Man führe den Zögling in die große und
reihe Natur, und laſſe die erhabenen Schauſpiele der auf- und
untergehenden Sonne, des rauſ<enden Stromes, des himpmelan-
ſtrebenden Berges 2c. vor ſeinem Bli>e vorübergehen; oder man
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