Full text: Sulzer bis Zynismus (5)

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über das äußere Verhalten etwas ausſagen. Ein 
u.e3 Kind braucht durchaus keinen Charaklterſehler 
zu haben, aber e8 verſtößt äußerlich gegen die 
öſthetiſchen Forderungen, die ſreilich auch hier ſehr 
eng u. nahe mit den moraliſchen ſich berühren. Die 
Urſachen liegen de8halb auch weniger inangeborner 
Eigenart als vielmehr im kindlichen Temperament 
Uu. Freiheitögeſühl u. in Unterlaſſungsſünden der 
Erzieher, Unarten ſind keine tieſer gegründeten 
ſittlichen Mängel, ſondern allermeiſt nur Fehler 
uußerer Zucht, die nicht zu ernſt zu nehmen, aber 
natürlich auch nicht zu überſchen jind. Wenn ſich 
jedoch die einzelnen Unarten häufen u. zu einem 
ganzen Habitus ſich entwickeln, ſo entſteht der 
Typus des u,en Kindes, da3 ſeine Umgebung 
durch ungebärdige3 Weſen, durch Schreien 1. 
Schlagen, durch Widerſetlichkeit u. Eigenſinn be» 
läſtigt u. deſſen „Streiche“ nicht mehr zu belächeln, 
jondern ernſtlich zu beſtraſen ſind, da hier Ge- 
ſahr vorliegt, daß der Charakter angefreſſen wird. 
11. Erziehlihes, Cbende3zwegen hüte ſich die 
Erziehung, beim Außerlichen ſtehen zu bleiben u. 
bloß auf „Art“ des Benehmens zu dringen ; ſie 
faſſe vielmehr da3 Übel bei der Wurzel an. Artige, 
muſterhaſt ſich betragende Kinder ſind durchaus 
nicht die beſten; in einem u.en Kind ſteckt ſogar 
oft ein viel beſſerer Kern. Das lehtere gibt offen 
u. ungeſcheut ſeinen Gefühlen u. Trieben Ausdruck, 
während da3 artige ojt auch gern mnartig ſein 
möchte, aber heuchleriſch u. du>mäuſeriſch ſich die 
Poſe der Bravpheit zu geben weiß. Man erſorſche 
alſo auch hier pſychologiſch u. ſuche die in der 
Unart verborgen liegende Kraſt der Offenheit, 
Wahrhaſtigkeit, Urſprünglichkeit umzubiegen u. in 
den Dienſt des Guten zu ſtellen, im übrigen aber 
durch die bekannten Erziehungsmittel der Be» 
lehrung, Mahnung, Gewöhnung, Strafe das 
Kind zur „Art“ zu führen, wodurc< Unarten ſich 
von ſelbſt verlieren werden. [H. Mojſapp.] 
Vnanſwmerktſamreit, 1. Was iſt U.? 
Schon da3 Wort weiſt auf den ege zur Auf- 
merljamkeit (f. d.) hin. Wenn die Auſmerkjam- 
keit jenen (fei e3 willkürlich herbeigeführten od. 
unwillkürlich entſtandenen) Grad des Bewußtſeins 
bezeichnet, in welchem gewiſſe Inhalte zu einer 
klaren u. deutlichen Erſaſjung gelangen, ſo wird 
ſich der Zuſtand der U. dadurch <arakteriſieren, 
daß in ihm ebendieſe Inhalte nicht ſo klar u. 
deutlich erfaßt werden, wie e3 geſchehen ſollte. Das 
ſchließt keinesweg3 aus, daß andre Bewußtſeins» 
inhalte im gleichen Augenblicke zu wirklich deutlicher 
Beachtung kommen. Daher iſt der Gegenſaß von 
Auſmerkjamkeit u. U. kein allwegs ausſchließen» 
der. Zur nämlichen Zeit u, na< der nämlichen 
Richtung hin können beide nicht im Bewußtſein 
zuſammen beſtehen ; aber i<h kann irgend etwas, 
was gegenwärtig vielleicht nicht Gegenſtand meines 
Aufmerken3 ſein ſollte, mit Auſmerljamkeit be» 
achten u. etwas andres, das ich beachten müßte, 
unbeachtet laſjen. I< habe dann, wie man zu 
ſagen pflegt, „meine Gedanken nicht bei der Sache", 
Unaufmerkſamkeit, 
 
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bin jedoc< de38wegen no< nicht „unaufmerkſam“ 
im vollen Sinne, Aber meiner augenblicklichen 
Aufgabe gegenüber bin ich unaufmerkſam, u. ſolche 
relative U. tadelt der Lehrer gemeinhin ſchlecht- 
weg als Ü, Er nennt ſie zutreſſenderweiſe „Zer- 
ſtrentheit“, weil die geiſtige Kraſt des Schülers 
wie zerteilt u. aufgelöſt erſcheint, ſo daß ihre 
Sammlung auf den notwendigen Gegenſtand zur 
Zeit förmlich unmöglich iſt. Bei normalen Kindern 
iſt eben vielſach wohl eine Sammlung vorhanden, 
nur nicht am rechten Plaße. Bei nervöſen u. erſt 
recht bei neuraſtheniſchen Kindern mag ſie über= 
haupt ſchlen; hier ſchwankt die geiſtige Bewegung 
beſtändig hin u. her, ohne einmal auf ein be- 
ſtimmtes Ziel zuſteuern zu können. Die den kleinern 
Kindern natürliche Unbeſtändigkeit der Auſmerk- 
ſamkeit iſt auf die Stufe des unſteten Umher- 
ſchweifens herabgeſunken. Das äußere Benehmen 
verrät in der Negel leicht, ob es ſich bei einem 
„unauſmerkjamen Schüler“ um eine durch ander- 
weitige lebhaſte Beſchäſtigung hervorgerufene U. 
handelt od. um eine nirgends haſtende krankhaſte 
Zerſtreutheit. Die leßtere Art bekundet ſich meiſt 
in allgemeiner Unruhe (ſ. d.), die erſtere in dem 
au8geprägten Gebärdenſpiel der „Geiſte8abweſen- 
heit“ u. der Gedankenloſigkeit, außer man hat es 
mit geriebenen kleinen Gaunern zu tun, die äußer- 
lich mit großer Kunſt den Schein der Aufmerk- 
ſamkeit zu erwecken vermögen. 
II, Wodurch entſteht die 1.? Faſſen wir 
vorerſt die normal veranlagten Kinder ins Auge. 
Wie die Auſmerkjamkeit, ſo kann aud) die U. teils 
mit Abſicht erzeugt werden teil8 unwillkürlich ſich 
einſtellen. Wenn etwa während einer langweiligen 
Schulſtunde draußen auf der Straße etwas (z. B. 
ein militäriſcher Auſzug) vorgeht, was das Inter- 
eſſe der Kinder in Anſpruch) nimmt, ſo wird es 
ſchwer ſein, die Auſmerkjamkeit beim Unterrichte zu 
halten ; ſie ſ<weiſt unwillkürlich zum gegenwärtig 
Intereſſanteca ab. So iſt es auc) bei viel weniger 
auffälligen Begebenheiten. Dem Kind geht etwa 
während der Lektion plößlich etwas vom Spiel, 
von der Lektüre durch den Kopf; in der Puber=- 
tät3zeit regt ſich die geſchlechtliche Phantaſie oft 
mit auſdringlicher Macht. Die Vorſtellungen ſind 
konkret, lebendig, gefühlöwarm, Wie leicht u. gern 
folgt der kindliche Geiſt dieſer Lo>ung v. träumt 
bei oſſenen Augen von Gegenſtänden, die mit der 
ernſten Schularbeit nicht3 zu tun haben! Viel» 
leicht reißt ihn erſt die ſtrenge, fühlbare Mahnung 
de3 Lehrers aus ſeiner Verſunkenheit. Hier war 
das Intereſſe (ſ. d.) der Verführer ; ein direkt dem 
Lehrer widerſirebender Wille war nicht wirkſam. 
Das Kind weiß ſelbſt nicht, wie es vom Unter- 
richt abgekommen iſt. „Jc< habe an etwas denken 
müſſen“, iſt vielfach ſeine Entſchuldigung. Natür- 
lich gibt e8 daneben auc<h genug Fälle, wo von 
Anſang an der Wille zum Auſmerken nicht da 
war. Dann paart ſich meiſt die Faulheit (f. d.) 
mit der Luſt zu ſchlimmen Streichen. Man benußt 
die Abgelegenheit ſeine8 Plaße3 od. die augen»
	        
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