Full text: Sulzer bis Zynismus (5)

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kennen lernte, Das ſympathiſche, aber langweilige 
Werk betont mehr da3 <riſtlich=religiöſe Leben in 
pietiſtiſchelutheriſchem Sinne. Sein Bildungsziel 
iſt: fromme Sittlichkeit u. Verſtandesbildung. 
Unterricht u. Körperpflege werden gleichmäßig be= 
trieben; der Staat ſorgt für alles, ohne der Familie 
jede8 Necht auf die Kinder zu nehmen. Knaben 
u. Mädchen werden ziemlich gleichmäßig erzogen 
u. unterrichtet; Lehrerinnen erweiſcu jich ais ebenſo 
tüchtig wie Lehrer. Die Jugend wird nicht „den 
gemeinſten, laſterhaſteſten, geſc<hmadloſeſten u. 
härteſten Menſchen überlaſſen“, die Lehrer ſtammen 
nicht „aus der Hefe de8 Volkes“ --- bezeichnend 
genug, daß dies ausdrüclich hervorgehoben werden 
muß. =- Die Folge der Unterrichtsfächer wird 
genau angegeben ; ſie iſt nicht eben umſtürzleriſch. 
Die weitere Volksbildung iſt faſt ganz religiös ; die 
öſſentliche Staat8bibliothek wird nur wenig benußt, 
die Bürger ſind nicht vorwißig, ſie leſen meiſt geiſt= 
liche Bücher. Bei den allgemeinen Gebetſtunden 
morgen3, mittags u. abends darf keiner fehlen. 
Ein ganz andre3 Bild bietet die Nova 
Atlant1s (erſchien zwiſchen 1621 u. 1626) von 
Francis Bacon (ſ. d.). Dieſer engliſche Lord- 
fanzler ſchaltet auch im Gedankenreich als macht= 
voller Kanzler : er ſte>t die Grenzen ab für die 
Provinzen der Wiſſenſchaſten u. ſür die Kreiſe der 
Lehrfächer ; dem „Sc<aßhaus8 der Wiſſenſchaft", 
der Organiſation der gelehrten Arbeit gilt ſeine 
ſtete Sorge; Akademien ſind ſein Ziel u. natür- 
lic der Staat da8 Werkzeug hierbei, --- Auch 
der erſte deutſch geſchriebene Staat8roman „Vom 
Königreiche Ophir“ (1699 ; Verſaſſer unbekannt) 
befaßt ſich viel mit dem höhern Wiſſenſchaft3- 
betrieb ; doch nennt ſchon der lange Titel auch 
„die völlige Kir<enverſaſſung, Einrichtung der 
hohen u. niedern Schulen, . . . Auferziehung der 
kgl. Prinhen u. Prinßeſſinnen . . .“ Alle dieſe 
Kapitel werden mit echt deutſcher Gelehrtengründ»= 
lichfeit abgehandelt. 
Die hier erwähnte Prinzenerziehung, 
die zu allen Zeiten pädagogiſche Denker be= 
ſchäftigte (ſ. Fürſtenerziehung), erhielt bald nach 
„Ophirs" Erſcheinen ihren klaſſiſchen Au8dru> in 
Fenelons Töl6maquo (vollſtändig 1717); ähn= 
lich find Namſays Lo voyage de Cyrus (2 Bde, 
Paris u. London 1727), der ſelbſt im Titel an 
die alte „Kyropädie“ erinnert, Abbe de Terraſſons 
Sethos (3 Bde, Paris 1732), Wieland8 „Der 
goldene Spiegel“ (4 Bde, Leipzig 1772) ſowie 
Engel35 „Fürſtenſpiegel“ (Berlin 1798), der bi8= 
her in der Literatur kaum gewürdigt iſt. Dieſes 
ganze Gebiet der Fürſtenerziehung liegt indeſſen 
nur an den Grenzen des utopiſchen Schulbereich 
ebenjo wie die Nobinſongeſchichten; daher möge 
es bei dieſer Erwähnung ſein Bewenden haben. 
Von beſondrer Wichtigkeit wurde der Codso ds 
Ia nature ou 16 veritable esprit de ges loix 
(Amſterd, 1755) von Morelly, dem nam- 
jafteſten Utopiſten der Aufklärung38zeit, der auch 
die utopiſche Basgiliade verfaßte. Von den zwölf 
Utraquiſtiſche Schulen. 
 
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Geſehen jenes Cods iſt das X. das Erziehungs- 
geſeh, das XI. das Unterrichts8geſez. Morelly3 
Ausführungen erinnern übrigens ſtark an Morus 
u. Campanella, Seine beträchtliche Wirkung wurde 
in der Revolutionözeit nod) dadurch erhöht, vaß 
Babeuf den Cods zum wirklichen Geſeß erheben 
wollte. -- Neben der anonym erſchienenen Repu- 
bliqne Aeg philosophes (Genf 1768), der D6- 
couverte australe (Pari83 1781) von Retif de la 
Bretonne, dem Royaume de Dimocala (Wars= 
ſchau 1752) von Stan. Leſzczynſki, dem anonymen 
Pölicien (dtſch Leipz. 1794) u. Cabet8 Voyage 
en Icarie (Par. 1842) ſei ein biäher überſehenes 
deutſche3 utopiſche3 Buch genannt: Andreas Mo= 
ſer3 „Geſunder Menſchenverſtand über die Kunſt, 
Bölker zu beglücken“ (1800), eine Schrift vollen 
Ko3mopolitizmus u. allgemeiner Johannisliebe, 
mit der platoniſchen Forderung der Philoſophen= 
Regierung, mit Staatsreligion, Toleranz, öffent= 
licher Erziehung (Privatſchulen ſind ſireng unter= 
ſagt) u. viel verſtändigen Worten über Körperpflege, 
Mädchenerziehung, gutes Verhältnis zwiſchen 
Schule u. Elternhaus u. mit der nachdrüclichen 
Forderung attsreichender Beſoldungen ! 
Von den Utopien der leßten Jahrzehnte können 
hier nur einige Namen u. Titel genannt werden : 
EC. Bellamys „Rüebli aus dem Jahre 2000“ 
(dtſm 1890), Th. Herkka38 „Freiland“ (1890) 
tt. Makays „Anarchiſten“. Den Beſchluß macht 
3. Barolins „Sculſtaat“ (1909), Er ſchlägt 
vor, daß alle Kulturſtaaten ihr Schulweſen von 
Grund aus ändern u. ganz gleichmäßig einrichten 
mit einheitlichem Auſbau des geſamten Unterrichts 
vom 4.---24, Lebensöjahre, Gleichberechtigung der 
Körperpflege u. Verwirklichung des Arbeitsſchul= 
gedankens in allen Anſtalten von der Dorſſchule 
bis zur Univerſität. Dieſe geiſtreich dur<geführten 
„Vorſchläge zur Völkerverſöhnung u. Herbeifüh- 
rung eine8 dauernden Friedens durch die Schule“ 
dürſten durc< den gegenwärtig tobenden Weltkrieg 
mehr al3 je zu einer Utopie geſtempelt ſein. 
Literatur, Die wichtigern Utopien ſind in 
dtſch. Aus8g. (3. T. bei Neclkam) zugänglich. Vgl. 
üb. jie die Handb. d. Staatswiſſ. u. d. Lit.2Geſch. 
(3. B. A. Stöc>l u. E. M. Roloſf im Staatslex. d. 
Görre8-Geſ. V [*1912] ; A. Baumgartner, Geſch. d. 
Weltlit.). Pädag. Unterſuch. üb. Platons „Staat“ 
(Lit. bei Überweg-Prächter , Grundr. d. Geſch. d. 
Philoſ. 1 [!*1909]) u. Morus" „Utopie“ ſind zahlr., 
neuerding38 durch J,. Kvadala auc<h über Campa- 
nellas „Sonnenſtaat“. Vgl. ferner K. Kauts8ky, Th. 
Morus u. ſ. Utopia (?1907) ; J. Reiner, Berühmte 
Utopiſten u. ihr Staatsideal (1906); Emke, Das 
Erziehungsideal bei Th. Moru8 (Marburg. Diſſ. 
1904) ; I. Pry8, D. Staatsrom. d. 16. u. 17. Jahrh. 
u. fein Erziehungsideal (Würzburg. Diſſ. 1913);. 
W. Münch, Zukunftspädag., Utopien, Jdeale u. 
Möglichkeiten (* 1913); derſ., Gedanken üb. Fürſten» 
erzieh. (1909); NR. Stein , Naturwiſſ. i. Utopia 
(Diſch. Geſchichtsblätt., Bd XVI11 [1916] 48 ff). 
[R. Stein.] 
Utraquiſtiſche Schulen ſ. Zweiſprachige 
Sculen.
	        
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