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Verlogenheit j. Lüge, Wahrhaſtigkeit.
Vermoögenspſychologie ſ[. Pſychologie.
Bexrnuunft 11. Verſtand, C3 bedarf keiner
nähern Begründung, daß wir, dem Zwecke eines
pädagogiſchen Lexikon8 entſprechend, an dieſer
Stelle von einer eingehenden Erörterung der mit
dem Stichwort „Vt. u. Vd.“ gegebenen logiſchen,
erkenntnistheoretiſchen u. pſychologiſchen Probleme
abſehen. Wir nehmen davon nur ſo viel herein,
als für das pädagogiſche Intereſe notwendig er=
ſc<eint. Vgl. dazu auch den Art, Urteilsfraft.
1. Geſchichtliches. Vt.= u. Vd.e3erkenntnis
galten in allen antimaterialiſtiſchen Syſtemen als
Funktionen des geiſtigen Erkennens. Man mochte
im einzelnen nod ſo ſehr über die Beſtimmung
der Vernunſt (abgekürzt : Vt.) einerſeit3 u. des
Verſtandes (abgekürzt: Vd.) anderſeit38 unein3 ſein,
man unterſchied beide jedenfalls ſtreng als „höhe=
res“ Erkennen, als Denken (f. d.) vom „niedern“ od.
ſinnlichen Erkennen. Und dem Denken ſchrieb man
ſchon in der griechiſchen Philoſophie eine doppelte
Aufgabe zu : es ſoll dur abſtrahierende3 Heraus8=
heben des bleibenden, weſentlichen Inhalte3 aus
dem wechſelnden Erfahrungsbeſtande den „Begriff“
eines Dinges bilden u. ſo eine echte wiſſenſchaſtliche
Erkenntnis erzeugen; dann ſoll e3 das Verhältnis
der „Begriſſe“ zueinander, die Abhängigkeit nach
Grund u. Folge ſeſtſtellen (ſ. Begriſſsbildung).
Die erſte dieſer Auſgaben ſchließt eine Art von
unmittelbarer Verbindung des Denkens mit ſeinem
Gegenſtand ein ; ſie läuſt de8halb auf ein geiſtiges
Sauen hinaus. Schon Platon u, Ariſtoteles
bemühten ſich, dieſe Form de3 Erkennen3 pſycho-
logiſch verſtändlich zu machen. Der leßtere wollte
den Vorgang durch die Unterſcheidung von „täti-
gem“ u. „leidendem“ Vd. erklären; wir können
ſeiner Theorie heute nicht mehr in ihrem ganzen
Umfange beipflichten. Die zweite der Auſgaben
des Denkens ſeht die Verwirklichung der erſten
voraus; ſie verlangt eine durch Aufzeigen der
Gründe vermittelte Einſicht. Die Hauptform
diejer Art de3 Erkennens iſt der Schluß (ſ. d.),
in welchem ein Mittelbegriff al8 Grund der
Identität von zwei andern Begriſſen auſgewieſen
wird. Die ſo begründete Identität wird dann
im Sclußurteil (6onelusio) ausgeſprochen. Die
Überzeugung, daß das unvermittelte (od. unbe=
gründbare) Wiſſen die Grundlage alles vermits=
telten (od. begründbaren) Wiſſens ſein müſſe, iſt
ſlet8 die ſtärkſte Stüße im Kampfe gegen den
Skeptizismus (ſ. d.) geweſen, der ein unbedingt
ſicheres Erkennen nicht zugeben wollte. Die Scho-
laſtik (f. d.) hat dieje Überzeugung beſonders im
Anſchluſſe an die Ariſtoteliſchen Gedankengänge
verteidigt. Sie hat dieſe in ſtreng logiſcher Durd)=
führung vertieft u. den Bereich der beiden Funk=
tionen des Denken3, die ſie in einem Seelenver-
mögen vereinigte, abgegrenzt. Sehr klar tut dies
der hl. Thomas v. Aquino (ſ. d.). Er führt in
jeiner Summa theologica (p. 1, q. 79, art. 8)
ungefähr folgendes aus: Daß das unmittelbare
Verlogenheit -- Vernunſt u. Verſtand.
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Erkennen (= intelligers, intelleetus) u. das
vermittelte Erkennen (= ratiocinari, ratio) nicht
zwei verſchiedene Kräſte, ſondern nur zwei ver=
ſchiedene Funktionen ein u. der nämlichen Denk=
kraft ſind, erhellt aus der Betrachtung ihrer
eigentümlichen Tätigkeit. Intelligere enim est
Simpliciter veritatem intelligibilem appre-
hendere; ratiocinari autem est procedere
do uuo intellecto ad alind, ad veritatem in-
telligibilem cognoscendam. Der menſchlichen
Erkenntnis iſt die rein intellektive Schauung, wie
ſie die Engel als gänzlich von der Materie un=
abhängige Geiſter beſißen, nicht gegeben. Aud)
dann, wenn die Menſchen die ihnen mögliche in=
tellektive Schauung betätigen (z. B. bei der un=
mittelbaren Einſicht in die oberſten Prinzipien
der Zdentität uſw., bei der begrifflichen Weſen8=
erfaſſung), müſſen ſie mit ihrem Denken gleichſam
durch einen materiellen Erkenntniöinhalt hin=
durchdringen (f. Erkenntni8vermögen). Eine Art
von procedere iſt alfo |<hon hier notwendig.
Nun erwächſt aber die Hauptmaſſe des menſch=
lichen Wiſſen3 nicht aus ſolchen unmittelbaren
Einſichten, ſondern erſt aus der Vergleichung
(j. d.), Beziehung, Begründung; u. all das iſt
nur möglich durd) ein ſtetes Hin u. Her zwiſchen
einzelnen Erfahrungsinhalten u. allgemeinen Bes
griſſen, zwiſchen einzelnen Urteilen u. den oberſten
Grundſäßen, u. umgekehrt. Die Analyſe löſt auf
dem Wege der Abſtraktion u. der Induktion aus
dem Individuellen das Allgemeine, die Syntheſe
ſchreitet im beweiſenden Syllogismus (ſ. Schluß)
vom Allgemeinen zum Beſondern vor. Dieſes
Auf u. Ab iſt der menſchlichen Denkbewegung
<arakteriſtiſch; ſie geſchieht per modum discur-
8us. Aus dem Bilde de3 discurrere iſt glei)
das Verhältni3 der zwei Nichtungen der Denk=
bewegung erſichtlich. Patet ergo quod ratio-
ceinar1 comparatur ad intelligere Sicut mo-
verl ad quiescere, vel acquirere ad habere,
quorum unum est perfecti, alind autem im-
perfecti, Kt quia motus Semper ab immobili
procedit et ad aliquid quietum termiatur,
inde est quod ratiocinatio humana gecundun
viam inquisitionis vel inventionis procedit a
quibusdam Ssimplieiter intellectis, quae sunt
prima principia ; eb rursus in via iudicit re-
Solvendo redit ad prima principia, ad quae
inventa examinat. Der notwendige Zuſammens=
hang der beiden Funktionen des menſchlichen
Denkens, für den ſchon Platon u. Ariſtoteles das
ſchöne Bild von der antiken Nennbahn gebrauchte,
wo der Wettfſahrer von der Zuſchauermenge aus=
ging u. um die Grenzſäule herum wieder zu
ſeinem Ausgange zurückfehrte, bildet für Thomas
v. Aquino mit Necht auch den ſachlichen Grund
zur Annahme der realen Einheit beider Tätig
keiten in dem einen Denkvermögen. E38 iſt auc
keine Frage, daß mit dieſer Feſtſtellung, wie über=
haupt mit der Darlegung der geſamten Gliede=
rung des geiſtigen Erkennens der wahre Sachs