Full text: Sulzer bis Zynismus (5)

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Verlogenheit j. Lüge, Wahrhaſtigkeit. 
Vermoögenspſychologie ſ[. Pſychologie. 
Bexrnuunft 11. Verſtand, C3 bedarf keiner 
nähern Begründung, daß wir, dem Zwecke eines 
pädagogiſchen Lexikon8 entſprechend, an dieſer 
Stelle von einer eingehenden Erörterung der mit 
dem Stichwort „Vt. u. Vd.“ gegebenen logiſchen, 
erkenntnistheoretiſchen u. pſychologiſchen Probleme 
abſehen. Wir nehmen davon nur ſo viel herein, 
als für das pädagogiſche Intereſe notwendig er= 
ſc<eint. Vgl. dazu auch den Art, Urteilsfraft. 
1. Geſchichtliches. Vt.= u. Vd.e3erkenntnis 
galten in allen antimaterialiſtiſchen Syſtemen als 
Funktionen des geiſtigen Erkennens. Man mochte 
im einzelnen nod ſo ſehr über die Beſtimmung 
der Vernunſt (abgekürzt : Vt.) einerſeit3 u. des 
Verſtandes (abgekürzt: Vd.) anderſeit38 unein3 ſein, 
man unterſchied beide jedenfalls ſtreng als „höhe= 
res“ Erkennen, als Denken (f. d.) vom „niedern“ od. 
ſinnlichen Erkennen. Und dem Denken ſchrieb man 
ſchon in der griechiſchen Philoſophie eine doppelte 
Aufgabe zu : es ſoll dur abſtrahierende3 Heraus8= 
heben des bleibenden, weſentlichen Inhalte3 aus 
dem wechſelnden Erfahrungsbeſtande den „Begriff“ 
eines Dinges bilden u. ſo eine echte wiſſenſchaſtliche 
Erkenntnis erzeugen; dann ſoll e3 das Verhältnis 
der „Begriſſe“ zueinander, die Abhängigkeit nach 
Grund u. Folge ſeſtſtellen (ſ. Begriſſsbildung). 
Die erſte dieſer Auſgaben ſchließt eine Art von 
unmittelbarer Verbindung des Denkens mit ſeinem 
Gegenſtand ein ; ſie läuſt de8halb auf ein geiſtiges 
Sauen hinaus. Schon Platon u, Ariſtoteles 
bemühten ſich, dieſe Form de3 Erkennen3 pſycho- 
logiſch verſtändlich zu machen. Der leßtere wollte 
den Vorgang durch die Unterſcheidung von „täti- 
gem“ u. „leidendem“ Vd. erklären; wir können 
ſeiner Theorie heute nicht mehr in ihrem ganzen 
Umfange beipflichten. Die zweite der Auſgaben 
des Denkens ſeht die Verwirklichung der erſten 
voraus; ſie verlangt eine durch Aufzeigen der 
Gründe vermittelte Einſicht. Die Hauptform 
diejer Art de3 Erkennens iſt der Schluß (ſ. d.), 
in welchem ein Mittelbegriff al8 Grund der 
Identität von zwei andern Begriſſen auſgewieſen 
wird. Die ſo begründete Identität wird dann 
im Sclußurteil (6onelusio) ausgeſprochen. Die 
Überzeugung, daß das unvermittelte (od. unbe= 
gründbare) Wiſſen die Grundlage alles vermits= 
telten (od. begründbaren) Wiſſens ſein müſſe, iſt 
ſlet8 die ſtärkſte Stüße im Kampfe gegen den 
Skeptizismus (ſ. d.) geweſen, der ein unbedingt 
ſicheres Erkennen nicht zugeben wollte. Die Scho- 
laſtik (f. d.) hat dieje Überzeugung beſonders im 
Anſchluſſe an die Ariſtoteliſchen Gedankengänge 
verteidigt. Sie hat dieſe in ſtreng logiſcher Durd)= 
führung vertieft u. den Bereich der beiden Funk= 
tionen des Denken3, die ſie in einem Seelenver- 
mögen vereinigte, abgegrenzt. Sehr klar tut dies 
der hl. Thomas v. Aquino (ſ. d.). Er führt in 
jeiner Summa theologica (p. 1, q. 79, art. 8) 
ungefähr folgendes aus: Daß das unmittelbare 
Verlogenheit -- Vernunſt u. Verſtand. 
 
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Erkennen (= intelligers, intelleetus) u. das 
vermittelte Erkennen (= ratiocinari, ratio) nicht 
zwei verſchiedene Kräſte, ſondern nur zwei ver= 
ſchiedene Funktionen ein u. der nämlichen Denk= 
kraft ſind, erhellt aus der Betrachtung ihrer 
eigentümlichen Tätigkeit. Intelligere enim est 
Simpliciter veritatem intelligibilem appre- 
hendere; ratiocinari autem est procedere 
do uuo intellecto ad alind, ad veritatem in- 
telligibilem cognoscendam. Der menſchlichen 
Erkenntnis iſt die rein intellektive Schauung, wie 
ſie die Engel als gänzlich von der Materie un= 
abhängige Geiſter beſißen, nicht gegeben. Aud) 
dann, wenn die Menſchen die ihnen mögliche in= 
tellektive Schauung betätigen (z. B. bei der un= 
mittelbaren Einſicht in die oberſten Prinzipien 
der Zdentität uſw., bei der begrifflichen Weſen8= 
erfaſſung), müſſen ſie mit ihrem Denken gleichſam 
durch einen materiellen Erkenntniöinhalt hin= 
durchdringen (f. Erkenntni8vermögen). Eine Art 
von procedere iſt alfo |<hon hier notwendig. 
Nun erwächſt aber die Hauptmaſſe des menſch= 
lichen Wiſſen3 nicht aus ſolchen unmittelbaren 
Einſichten, ſondern erſt aus der Vergleichung 
(j. d.), Beziehung, Begründung; u. all das iſt 
nur möglich durd) ein ſtetes Hin u. Her zwiſchen 
einzelnen Erfahrungsinhalten u. allgemeinen Bes 
griſſen, zwiſchen einzelnen Urteilen u. den oberſten 
Grundſäßen, u. umgekehrt. Die Analyſe löſt auf 
dem Wege der Abſtraktion u. der Induktion aus 
dem Individuellen das Allgemeine, die Syntheſe 
ſchreitet im beweiſenden Syllogismus (ſ. Schluß) 
vom Allgemeinen zum Beſondern vor. Dieſes 
Auf u. Ab iſt der menſchlichen Denkbewegung 
<arakteriſtiſch; ſie geſchieht per modum discur- 
8us. Aus dem Bilde de3 discurrere iſt glei) 
das Verhältni3 der zwei Nichtungen der Denk= 
bewegung erſichtlich. Patet ergo quod ratio- 
ceinar1 comparatur ad intelligere Sicut mo- 
verl ad quiescere, vel acquirere ad habere, 
quorum unum est perfecti, alind autem im- 
perfecti, Kt quia motus Semper ab immobili 
procedit et ad aliquid quietum termiatur, 
inde est quod ratiocinatio humana gecundun 
viam inquisitionis vel inventionis procedit a 
quibusdam Ssimplieiter intellectis, quae sunt 
prima principia ; eb rursus in via iudicit re- 
Solvendo redit ad prima principia, ad quae 
inventa examinat. Der notwendige Zuſammens= 
hang der beiden Funktionen des menſchlichen 
Denkens, für den ſchon Platon u. Ariſtoteles das 
ſchöne Bild von der antiken Nennbahn gebrauchte, 
wo der Wettfſahrer von der Zuſchauermenge aus= 
ging u. um die Grenzſäule herum wieder zu 
ſeinem Ausgange zurückfehrte, bildet für Thomas 
v. Aquino mit Necht auch den ſachlichen Grund 
zur Annahme der realen Einheit beider Tätig 
keiten in dem einen Denkvermögen. E38 iſt auc 
keine Frage, daß mit dieſer Feſtſtellung, wie über= 
haupt mit der Darlegung der geſamten Gliede= 
rung des geiſtigen Erkennens der wahre Sachs
	        
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