Full text: Sulzer bis Zynismus (5)

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u. Mund (10. Tauſ., 1910); H. Heſſe uv. a., Der 
Lindenbaum (1910) ; Alte, liebe Lieder (1908, ohne 
Namen); A. Lemmermann , Ut Hartens8grund 
(1908). -- Für die Jugend: Fraungruber, 
Aus des Knaben Wunderhorn (1902) ; Lobſien, 
Blau blüht ein Blümelein (1905); Der Zupfgeigen- 
hansl (n. A, 1914) u. a. [L. Kie8gen.] 
Volksſchriften. 1. Wichtigkeit der V. 
Sobald dur die Erfindung dex Buchdruerkunft 
u. dur zahlreichere Gründungen von Sculen 
für die Jugend des gemeinen Volkes fich nach u. 
nac<h die Kunſt des Leſen8 in den untern Volk3= 
ſchichten einbürgerte, entſtand ein dem Gefühls3= 
leben u. dem geiſtigen Faſſung3vermögen dieſer 
Kreiſe ſich anpaſſende3s Schriſttum, das man im 
Gegenſaß zu der ausſchließlich in den höhern Ge- 
ſellſchaftsklaſſen gepflegten Literatur als Volks8- 
literatur bezeichnet. In den Literaturgeſchichten 
u. in den Literaturblättern wurden die V. von 
jeher ſehr ſtiefmütterlich u. von oben herab be- 
handelt. Erſt ſeitdem einerſeit3 verſchiedene Or= 
ganiſationen zur Förderung der Volksbildung u. 
die immer mehr an Bedeutung gewinnende Volks8= 
büchereibewegung (f. Bildungövereine, Volks8- 
bibliotheken) zeigen, wie viel u, wie gern im Volke 
gelejen wird, anderſeit3 aber die nachdrusvoll 
einſeßende Bekämpfung der Schundliteratur (ſ. d.) 
das entſeßliche Unheil auſde>t, das eine vergiſtete 
Pſeudovolksliteratur anſtiſtet, wird man ſich der 
ungeheuern Bedeutung gediegener V, für ein ge= 
junde3 Volksötum (f. d.) klarer bewußt. Bereits 
vor 100 Jahren ſchrieb J. v. Görres über die 
Verbreitung der Volksbücher : „Nach keiner Seite 
hin hat die Literatur einen größern Umfang u. 
eine allgemeinere Verbreitung gewonnen, al3 indem 
jie übertretend aus dem geſchloſſenen Krei3 der 
höhern Stände durchbrach zu den untern Klaſſen, 
unter ihnen wohnte, mit dem Volke ſelbſt zum 
Volke, Fleiſch von ſeinem Fleiſch u. Leben von 
ſeinem Leben wurde“ (Die teutijchen Voll8bücher 
S. 178 in Bd I von Jof. v. Görre3? Ausgew. 
Werken, hr8g. mit Einleit. u. mit Anmerk. von 
W. Schellberg [1911]). Schon der Umſtand alſo, 
daß erſahrung8gemäß eine ungeeignete od. gar 
jc<hle<te V.literatur wegen ihrer unabſehbaren 
Verbreitung dem Volksleben die ſchwerſten Wun= 
den ſc<lägt, macht e8 allen, denen die Volks8- 
erziehung irgendwie obliegt, zur Gewiſſenspflicht, 
diefer Literaturgattung große Auſmerkſamkeit zu 
ſchenken u. ihrer richtigen Pflege die allſeitigſte 
Anteilnahme entgegenzubringen. Wenn ferner 
durd) die Volksſchule in ihren verſchiedenen Ver- 
zweigungen mit einem unendlichen Aufwand von 
Zeit, Arbeit u. Geld der Jugend die Kunſt des 
Leſen3 (]. d.) vermittelt wird, dann muß auch eine 
gediegene Buchliteratur der zum Volke heran- 
wachſenden Generation u. den Erwachſenen ſelbſt 
al3 ein dieſer Kunſt würdige3 Objekt zur Übung 
u. Bildung der Seele zur Verfügung ſtehen. Weil 
ſodann wegen der innigen Seelenverwandtſchaſt 
zwiſchen Volk u, Jugend die V, ſchr oſt auc 
Volk3ſchriſten. 
 
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Jugendſchriſten werden u. weil unanſhörlich die 
höhern Geſellſchaftöſchichten ſich durc< Nachwuchs 
aus den untern, namentlich den bäuerlichen, ver= 
jüngen u. ergänzen, de3halb kommt der Volks8= 
literatur in Wahrheit die Bedeutung der geiſtigen 
Muttermilch für die ganze Nation zu, u. darum 
iſt ihre ſorgſame Pflege wichtiger al8 jene der 
Literatur für die höhern Stände. 
11. Wie follen die V, beſchaffen ſein ? Jede 
echte Literatur iſt der Spiegel der Schiſale, des 
Arbeitens, de3 auſs DieSöſeits u. Jenſeit3 gerich= 
teten Denkens, Fühlens u. Streben8 eines Volkes. 
Darum beſchränkt ſie ſich nicht auf die ſchöne Lite= 
ratur, ſondern ſchließt die religiöſen, geſchichtlichen, 
geographiſchen u. naturwiſſenſchaſtlichen Werke 
ein. Auch das V.tum joll fich dem Umfang nad) 
über dieſe weiten Gebiete erſtre>en. Aber in der 
Darſtellung muß die Linienführung großzügiger, 
einfacher u. überſichtlicher gehalten werden, ohne 
de3wegen weniger wahr u. natürlich zu ſein, Die 
geiſtige Verwandtſchaft der Jugend mit dem Volke 
bedingt ohne weiteres auch eine Verwandtſchaft 
der Volksſchriſt mit der Jugendſchrift, wenn auch 
keine völlige Übereinſtimmung. Die8 macht ſich 
zunächſt geltend in der Auswahl des Stoffes, Wie 
die Jugend begeiſtert ſich da3 unverdorbene Volk3= 
gemüt ſür große, edle, erhabene Taten, für un= 
gewöhnliche, weit außerhalb des Bereich3 ſeiner 
Alltagserfahrung liegende Ereigniſſe u. Zuſtände. 
Daher rührt ſeine Vorliebe für Reiſeſchilderungen, 
für Bücher geſchichtlichen Inhalts, für die Legende, 
hauptſächlich aber ſür die epiſche Proſadichtung, 
welche Legenden, Sagen, große geſchichtliche Er= 
eigniſſe, abenteuerliche Taten, Schwänke u. Fas 
beln behandelt. Gleichwie jeder Menſch ſich an 
Negen=- u. trüben Nebeltagen nach der Sonne 
ſehnt u. nach jorgenvoller, j<werer Tage3arbeit 
bei Nacht zu den Sternen am Himmel auſſchauen 
möchte wie zu Lichtern, die aus einer ſchönern u. 
beſſern Heimat verheißung3voll herüberſchimmern, 
ſo verlangt das gemeine Volk mit Recht nach 
Büchern, die Feierabend= u. Feiertagsſtimmung 
in die Seele zaubern. De3wegen iſt von vorn= 
herein keine Dichtung als Volkslektüre ungeeigneter 
al3 der naturaliſtiſche Dorſ= u. Großſtadt= bzw. 
Armeleuteroman., Wenn ſich das Volk im Spiegel 
der Dichtung beſchauen will, braucht es ſich nicht 
gerade im Stallgewand zu beſehen ; beſſer iſt, es 
erbli>t ſic) im Sonntagsſtaat. Der Menſch im 
Feiertag8gewand iſt ein gerade ſo echter, natür= 
licher Menſch wie der im Arbeitskleide. Bei aller 
Natürlichkeit haben daher die ec<hten Volksbücher 
einen idealen Schwung. Der Zug zum ſittlich 
Großen, zu den hohen Jdealen der Familie, des 
Vaterlands u. der Religion iſt ihre Seele. Darum 
beſißen ſie auch jene Gigenſchaft, worauf ſchon 
Görres hingewieſen hat: ſie überdauern die Jahre 
u. haben ein Leben3alter, da3 nach Jahrhunderten 
zählt. Ein Volks8buc iſt jenes, das in gleicher 
Weiſe den Großvater in ſeiner Jugend erfreut hat, 
wie es nun den Enkel erfreut, der e8 zuſammen 
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