Full text: Arbeiter-Jugend - 1.1909 (1)

Arbeiter -Iugend. | 255 
 
 
 
 
 
Seele hinabgreift. Herder ſtudierte jene innige Volkspoeſie, 
in denen namenloſe Dichter die Gefühle namenlojer Menſchen 
ſagen: das Volks8lied. Bürger ſuchte in ſeinen Balladen, denen 
Sqhiller wichtige Anregungen danken ſollte, den Ton zu erreichen, 
in dem da38 Volk zu erzählen und zu hören liebt. Voß gab in 
ſeiner „&uiſe“ das Gemälde eine3 bürgerlichen Daſeins. Das 
Rollt, das Bürgertum, der einfache Menſ<h: das 
war das Thema der Zeit -- und da8 Bürgertum mußte in dieſem 
Thema die erſte Rolle ſpielen, weil e8 allmählich zum wichtigſten, 
zum entſcheidenden, zum herrſchenden Stande heranreifte und ſich 
zu jener Zeit noch mit Recht als „das Volk“ bezeichnete. 
Das etwa war die Welt, die Schiller vorfand, al8 er zum 
Vowußtſein ſeiner ſelbſt erwadte. Die Welt -- denn. nicht in 
Deoutichland allein war die Loſung der Zeit „Demokratie und 
Natürlichkeit“, 
hiirgerlichen Leben8 vorangegangen, und da3 franzöſiſche Bürger- 
inn ſtand im Begriff, ſich in einer gewaltigen Erhebung ſeiner 
gefrönten, adeligen und geſ<orenen Dränger zu entledigen. Die 
Deutſchen ſelber hatten bei den Engländern und den Franzoſen 
geicrnt. Cin franzöſiſcher Staat8denker, Jean Jacque3 
Rouſjeau, war der Apoſtel der Zeit, und die Stimmen 
duittſ<er Denker erklangen al38 ein Echo ſeiner Stimme. Wie 
niamer, wenn in der Geſchichte um aroße Dinge gerungen wird, 
orob ſich auch der bürgerlid e Freiheitszfämpfer zum Welt- 
bürger, erweiterte er ſich zum Kos8mopoliten, ſchuf er ſich ſelber 
zum internationalen Menſc<en. Auch Siller war 
nicht bloß ein Shwabe des 18. Jahrhunderts, nicht bloß ein 
Dentſ<er de8 18. Jahrhundert3 = ſondern er war 
varier hinaus ein Menſfſ< des 18. Sahr- 
0 iin er 
Gins aber muß Schiller gerade der Jugend teuer machen: 
„ vas er als Bürger dieſer Welt gedacht“, das hat er al8 Jüng- 
ling gedaht. Der Weltbürger Schiller iſt der junge Schiller, 
der Un gebrochene Schiller. Nicht in jugendliher Unreife, 
wie uns die ſhulmeiſterlichen Bedanten glauben machen wollen, 
'ondern in jener wundervollen, vertrauenden und ſtarken Hingabe 
: die großen KZiele de3 Menſcheng? ichiecht8, die das Vorrecht der 
u gend iſt, ſprach dieſer junge, dieſer ungebrochene Schiller die 
berühmten Worte, die fortab der Arbeiterjugend im Herzen 
brennen mögen, weil die „goldene Jugend“ de8 Bürgertums dieſe 
Worte nicht mehr kennt: 
„SCder fann nicht Fürſtendiener ſein -- oS 
err Ih licbe dice Meni <beit.“ Don Carlo8.) 
ZD 1 223.05 
BBE GSE 
Der Fampf um den Nordpol. 
ex Menſch iſt immer der unruhigſte aller Grdenbewohner geiveſen. 
Er hat zu allen Zeiten die Grde nach allen Richtungen hin durch- 
z=* wandert. Dieſer Wandertrieb iſt eigentlich von jeher ein Stück 
<civiterhaltungstrieb geweſen. 
Zunächſt ſuchte fich der Menſch feiner Umgebung anzuvaſſen. Er 
nte Das Klima ertragen lernen und bemühte fich, aus dem Tier- 
 
Langſt war England mit dem Vorbild freieren 
 
tat nach feinem Geheiß und gewöhnte mich allmählich daran. Als 
5 Darauf eine junge Müllerin ſtark, vor der ich hohe Achtung hatte, 
ci jie mich, wenn ich dort arbeitete, beſonders freundlich behandelte 
7 weil fie von ſeltſamer S Schönheit | war, betiete ich jie mit beſonderer 
orgfalt auf die Hobelſpäne in den Sarg. 
Cinmal bin ich vor einem Toten davongelaufen. In einem kleinen 
vansSchen, mitten im Walde, lebte ganz allein der alte Leupold. Er 
var Holzhauer und galt als Sonderling. Um ſeine Perſon hatten ſich 
ti den abergläubiſchen Leuten unſeres Dorfes allerlei Legenden ge= 
'ildet. Manche ſchimpften über ihn und ſagten, er habe einen böſen 
Lii. 3 aber hatte ihn gern, weil er mich einmal, als ih mich als 
einer Junge beim Rilzeſuchen verirrt hatte, 
racte, 
Der ſeltſame Manu hatte ſich auf dem Boden ſeine38 Häuschen3 
„angt. A135 der Sarg fertig war, mußte ich diefen allein mit des 
"ijters Kühen nach dem Häuschen des Erhängten in den Wald fahren. 
Dex x Meiſter ging einen bequemen Fußweg, weil dieſer an einem WirtS3- 
jau vorbeiführte. Auf dem holprigen Waldwege, über Wurzeln und 
Steine, Fang das „Poltern des Sarges auf dem Bretterwagen eigen= 
wg unheimlich. I< begann mich ein wenig zu fürchten. 
"es Selbſtmörders angefommen, traf ich unvermutet den Förſter dort. 
Fr half mir den Sarg vom Wagen heben und unten im Hausflur nieder= 
tielſen, Alsdann gingen wir zuſammen hinauf auf den Boden, wo der 
erhängte, das Stri>ende noch'um den Hal8, am Boden lag. Der Förſter 
abm feinen derben Sto> und ſ<lug den Toten mehrmals über den 
Se Das empörte mich und tat mir verſönlich web. J>< bat den 
Writer um Einhalt, kam damit aber ſehr ſchlecht an. „Solch ein Lump,“ 
Dm 
% 
m; 
auf den rechten Weg - 
Am Hauſe- 
bejtand und dem Bodenertrag ſeiner Heimat die Mittel zu ſeiner Leben3- 
erhaltung zu erarbeiten. War dieſe Möglichkeit ihm nicht gegeben, dann 
ging er auf die Wanderſchaft, dann machten ſich gange Völkerſtämme 
auf, um neue Länder zu finden, in denen ſie und ihre Nachkommen ein 
beſſeres und leichteres Leben führen konntken. So find in der Menſc<- 
beitsgeſchichte, ſoweit wir die Spuren unſeres Geſthlechts zurückverfolgen 
fönnen, die Völkerwanderungen von jeher bedeutſame Greigniſſe gae- 
weſen, Kämpfe um Grund und Boden, um Nahrung und Leben. 
Im Laufe der Entwickelung bat ſich dieſer Wandertrieb im Menſchen 
verfeinert. Zu der Sorge um des Lebens Nahrung und Notdurft iſt ein 
böher gearteter Forſcherſinn hinzugefommen. Der Menſ< will im 
Geiſte Herr werden über die Erde, will ſie bis in ihre verborgenſten 
Winkel kennen lernen, mit allem, wa3 auf ihr lebt und webt. So ijt 
als der höchſte Typ des Menſchenwanderers Der Naturforſcher anzuſeben, 
der Länver und Meere bereiſt, um ſig dem wiiſenſchaftlichen Bilde von 
unſerer Erde einzuverleiben. 
Das lette Jahrhundert der Erfindungen und Entde>ungen vat auch 
auf dieſem Gebiet ſeine Wirkungen hinterlaſſen. Auf der geographiſchen 
Crdfarte ſind die weißen Gebiete, die vom Menſchen biSher unbetretene 
Srodteile darſtellen, immer Heiner geworden. Der Urwald ijt von 
Menſchen durdſtreift, die Wüſte durchwandert worden, die weiten Meere 
jind durchfahren und die meiſten Bergrieſen ertleitert worden. 
Nur in den beiden Polarzonen findet die Forſchung no<ß ein auS3= 
gedehnte3s Arveitsfeld. Jm Nordpolargebiet iſt eine Fläche von der 
Größe Rußlands, im Süden ein Raum von der Größe GCuropas un= 
betretenes Land. Der Forſ<ungsöreiſende kann hier nur ſchwer vor- 
bringen, die treibenden GiSmajjen auf dem Meere droben, jein Schiff 
zu erdrücken, und wo er wirklich noh Feſtland unter den Füßen fühlt, 
it es unwirtliches Land mit niederer Vegetation, belebt von fremdartigen 
Tierraſſen. 
Troßdem jind immer und immer wieder neue Forſchuna5zreijen nah 
ven PBolargegenden unternon!men worden. CS iſt, als ob der Menic<h 
gerade durc< Die Ueverwindung der vielerlei Gefahren immer wieder 
aufs neue angeſpornt wird, den Kampf mii den Naturgewalion aufzu= 
nehmen. Beſonders der Nordpol galt von jeder als ein viel ums 
jtrittenes Reiſeziel. Wer denkt nicht an Tridtjof Nannen, den 
berühmten Norweger, der auf ſeiner „Fram“ und nachber auf Schnee- 
ſ<uben die GiSwüſten des Nordpolargebiete2 durchquerte? Cber an 
Andree, der den tollfühnen Plan gefaßt hatte, in einem Lukiballon 
den Nordpol zu überfliegen? Cs jind jekt zehn Jahre verfloſſen, daß 
Andree mit ſeinen Swe Begleitern im Ballon „Adler“ in Svpißvbergen 
aufgeſtiegen iſt. Gine Briefiaubkendepeſche, die zwei Tago ]puter anz 
langte, iſt die leßte Kunde, die von den drei Männern und ihrem Ballon 
zu uns gefommen iſt. Zahlreiche Cxpeditionen ſind ſeitdem von Männern 
der verſchicdenſicn Nationen unternommen worden, o012 daB es g= 
lungen wäre, bis zu dem Punkt vorzudringen, der im witientc<haft= 
lichen Sinne als der Nordpol bezeichnet wird. 
Nun wollen zwei amerikaniſche Forſcher, Co9t und Reary, den 
Rol erreicht baben. Die Zeitungen und Zeitſchriften verichten falt tag 
täglich über den nicht gerade erhebenden Sirceii der beiden Männer, 
von denen der eine dem anderen den Ruhm abzuſprechen Tucht, ZUL 
am Rol geweten zu fein. 
2 
Im Oktober 1907 fuhr eine EGrpedition, ausgerüſtet auf Kotten eines 
amerikaniſchen Millionär38, unter dem Kommando des amerikaniſchen 
 
meinte er, „der unſerem Herrgoit zuvorfommt, verdient Prügel.“ JIu1s= 
zwiſchen fam mein Meiſter dazu. Er ſchleifte ohne Federleſen Den 
Teten an die Treppe. Jc< mußie die Leiche an den Füßen packen, der 
Meiſter nahm das Stri>ende und faßte einen Arm des toten Svonder= 
ling3. Al35 ich in der Mitte der Treppe fand, machte der Schreiner- 
lenz, der zu viel Schnap3 oder Bier geirunkfen haben mochte, einen Febl= 
tritt. Gr ließ den Toten plößblich fahren, dieſer fiel auf mich und rutſchte 
mit mir zu meinem grenzenloſen Cntſozen die Treppe hinab. Zu Tove 
erſfchroden, jprang iH9 zur Haustüre hinaus und war uur unter 
Drohungen 31u bewegen, den Toten mit in den Sarg zu legei. 
Einige Zeit darauf crſichoß ſich auf der nahen Bahnſiation der dort 
amtierende Bahnmeiſter. Auch für dieſen half ich den Sarg machen. 
Die8mal mußte ich die ganze Nacht durcharbeiten, denn der Sarg wurde 
gefehlt, auh wurde ein beſonder2 reich ausgeſtattete3 Grabkreug DdazZU 
geliefert. E32 wollte mir damals nicht recht in den Kopf, warum man 
den erſchoſſenen Bahnmeiſter ganz anders, nämlich viel beſſer, be- 
handelte, al8 den alten Leupold, obwohl er doch ebenſogut Selbſtmörder 
war wie dieſer. 
Meine Bedenken waren um ]o größer, als man ini Dorfe davon 
munkelte, daß der Bahnmeiſter Unterſhlagungen und ſonſtige unred- 
liche Handlungen begangen hätte, auch wußte man, daß er ein ſtarker 
Trinker war. Dennoch wurde er mit allen Chren begraben. Auf ſeinem 
Sarg lagen ein mit der Scheide gekreuzter Degen und einige Orden. 
Der Veterancnverein war mit Muſik beim Leichenzug, und derſelbe 
Förſter, der mit dem Sto> auf den armen toten Holzhauer geſc<lagen 
hatte, hielt eine Leichenrede und tröſtete dic Witwe und die ſechs Kinder, 
welcße weinend am Grabe des Ernähbrer3 ſtanden. (Fortſezung folgt.)
	        
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