10 Die Theorie der Bildungsfnhalte
und kann kaum entbehrt werden. Im übrigen geht, wie noch zu zeigen ſein wird, die
Tendenz mehr und mehr dahin, ſich allgemeiner Sormulierungen möglichſt zu ent-
ledigen und ſie dur die ſchlichte Beſchreibung und anſchauliche Darſtellung des konkret
Geforderten zu erſeßen.
III
Die Theorie der Bildungsinhalte ſeßt den Zweifel an dem Inhalt
des Lehrgefüges, an Gegenſtand und Ziel der bildenden Begegnung voraus. Der Zweifel
hat zwei Ausgangspunkte: es wird fragwürdig der objektive Zuſammenhang der Inhalte
in einem Syſtem der Bildung, das abſolute Gültigkeit für ſich beanſpruchen könnte, und
anderſeits wird der Widerſtand der zu Bildenden gegen beſtimmte Inhalte und Ziele
der Bildungsbemühungen erfahren, der auf mangelnde Aufnahmebereitſchaft ſchließen
läht. Demgegenüber konnte auf die Dauer der einfache Hinweis auf die Exiſtenz des
Bildungsſyſtems ebenſo wenig genügen wie der ſtillſchweigende Einſatz des Bildungs-
willens und der Autorität der Erziehenden. Dem erſten ſtand entgegen, daß in Deutſch-
land ſeit der Neformation eine Mehrheit von Bildungsſyſtemen um Gültigkeit ringt,
dem letzteren die vielfältige Uraſt aktiver und paſſiver Abwehr, über die die Jugend aud)
der ſtärkſten Autorität gegenüber verfügt. So wurde eine begründende Reflexion über
die Bildungsinhalte erforderli. Dieſe wurde im weſentlichen in drei Richtungen ent-
widelt, in einer Theorie der Bildſamkeit, in einer Theorie der Bildungsgüter und in der
Theorie der Bildungswerte. Jede dieſer Theorien hat nod) heute ihre Anhänger, jede
von ihnen hat zudem ihre Stüße an außerpädagogiſchen Wiſſenſc<haftslehren, an der
Pſychologie, Geſchichte, Wertphiloſophie; jede vermittelt offenbar einen bleibenden
Bereid) von Wirklichkeitserkenntnis, zugleich aber ſtehen ſie in der angegebenen Reihen-
folge in einem zeitlichen Nadeinander der immer dichteren Annäherung an die geſtellte
Aufgabe. In der Entwidlung der pädagogiſchen Theorie Kerſchenſteiners wird dieſer
Sachverhalt beſonders deutlich. Die Srage iſt, ob in ſold)em Stufengang bereits der
ganze Umfang des Problems der Bildungsinhalte ſichtbar wird und ob in ihm bereits
alle Möglichkeiten ſeiner Löſung gegeben ſind. Cs wird ſid) zeigen, daß eine die früheren
Stufen in ſid) aufhebende Theorie der Bildungswerte noh nicht das letzte Wort ſein
kann in der Srage der Auswahl und Konzentration der Inhalte der Bildungsbemür-
hungen.
1. Die Theorie der Bildſamkeit--inihrer urſprünglichen, no) nicht unter
dem Einfluß von Kritik und Erfahrung umgewandelten Form --- ſieht in dem Mangel
an Aufnahmebereitſchaft einen Mangel an Aufnahmefähigkeit. Deſſen Urſachen findet
ſie aber nicht mehr einfach in einem quantitativen Zurüdbleiben hinter einem normalen
Durdyſc<nittsmaß von Anforderungen, ſondern in der qualitativen Differenzierung
der werdenden Individualität, der gegenüber ein didaktiſches Normalſyſtem un=-
möglid) iſt, einerlei aus welchen Gründen es ſeine abſolute Geltung ableiten mag. Mit
Berufung auſ die Pſychologie wird das eine Syſtem der Bildungsinhalte aufgelöſt in
eine Sülle individueller Syſteme je nach Anlage und Intereſſe der zu bildenden Indi-
viduen, und dieſe unendliche Differenzierung wird nur gemildert durd) die Möglichkeit
einer weitgehenden Typiſierung ähnlicher und durchſchnittlic)er Individualitäten. Es
wird dabei vorausgeſeßt, daß jeder Begabung auf dieſe Weiſe ein geſchloſſener Zu-
ſammenhang von Bildungsinhalten zugeteilt werden könne, und es wird angenommen,
daß in dieſer Verteilung der wirkliche Zuſammenhang der Lebensinhalte nicht nur er-