294 Staatliche und nationale Erziehung
Schon der beſondere Alt der Rechtsbildung wird auf jeder Stufe davon beſtimmt.
Denn das geſchriebene oder gelebte Recht iſt natürlid) aud) nur der Verſuch einer Suſte-
matiſierung des Lebens oder richtiger der Lebensverhältniſſe, die aber an allen Eden
und Enden dem Syſtem widerſtreben und in ihren tauſendfältigen Verſchlingungen
unfaßbar bleiben. Rechtsnormen ſind alſo Näherungswerte in Richtung auf beſtimmte
Ideale und in Ainſehung typiſcher Zölle. Aber die Ideale ſind ihrerſeits wieder zeitlich
gebunden und können gelegentlich den Begriffen einer raſch folgenden Nachwelt von
Sittlichkeit und Billigkeit völlig ins Geſicht ſchlagen. Mandhe haben deshalb auch nur
ein kurzes Leben. Die unvergleichlicz)e Größe des römiſchen Rechts liegt darin, daß es
ihm gelungen iſt, Grundſätze und Normen von ſolcher Genialität zu finden, daß ſie ſich
nod) viele Jahrh anderte hindurc< uneingeſchränkt bewährten, zum großen Teile auch
heute noch nicht beſſer gefaßt werden können.
Alle Zeiten alſo kennen nicht nur die Kunſt der Rechtsformulierung in verſchieden
hohem Grade, ſondern aud) die immer erneute Gewiſſensfrage na) dem Verhältnis
des Rechts zur Sittlichkeit. Nicht nur in dem Sinne einer möglichen, immer engeren
Annäherung des ſtatutariſchen Rechtes an ideelle Forderungen von Gerechtigkeit und
Sittlichkeit, ſondern immer wieder aud) in der ganz elementaren Srage nad) den Grenzen
des Staates gegenüber dem lebendigen Menſchen überhaupt.
Wir berühren damit das große Problem der Sreiheit, -- ſowohl des Einzelnen, wie
der Samilien und der ſonſtigen Teile oder Gruppen eines Staatsvolkes im Gegenſaß
zu dem unbedingten Anſpruch des Staates auf Gebot und Derbot, Dem Staate iſt dabei
die in äußeren Formen organiſierte oder gar durc eine Staatsmacht getragene Kirche
gleichzuſtellen. Cs gibt keinen Zwang, vor dem Staat oder Kirche im Laufe der Geſchichte
zurücgeſchre>t wären, von Verbot oder Zwang zur Eheſchließung bis zu der durd) die
Inquiſition feſtzuſtellenden inneren Geſinnung.
Eben deshalb beſteht eine zu allen Zeiten erlebte Antinomie zwiſchen Sreiheit und
Staat. Und wenn keine Zeit imgrunde an den Werten, an den ſittlichen und kulturellen
Werten der Sreiheit, der individuellen Selbſtbeſtimmung gezweifelt hat, ſo wird umge-
kehrt ebenſo die Erfahrungaller Zeiten anzurufen ſein für die ſittlichen Werte des Zwanges,
ſoweit die abſolute Freiheit das Gemeinwohl gefährdet. Deshalb liegt in dem Gegen-
ſaß von Sreiheit und Zwang nicht irgendeines der verſchiedenen Staatsprobleme, ſon-
dern das eigentliche Lebenselement des Staates. Seine Lebensäußerungen werden ſid)
immer zwiſchen dieſen beiden Polen bewegen, und immer wird es geben und muß es
geben eine mehr liberale und eine mehr autoritative Tendenz im Staate. In ihrem
Ausgleic) bewegt ſich alle innerſtaatliche Entwidlung.
Dahinter ſteht die äußere Srage nach den Grenzen des Staates und der Macht. Und
zwar nicht nur negativ, gegenüber der Freiheit, ſondern poſitiv in bezug auf den Um-
ſang der Staatsaufgaben. Iſt der Staat nur Macht nad innen und außen oder liegt
ſein Weſen und ſeine Wirkung für das Gemeinwohl aud) auf anderen Gebieten?
Dieſe Sragen ſind durch alle Jahrhunderte erörtert, nict nur aus Anlaß großer Kul-
turkämpfe, wie der Chriſtenverfolgungen des altrömiſchen Staates und aller ſpäteren
Kämpfe zwiſchen Staat und Uirche, ſondern angeſichts der unzähligen Möglichkeiten
eines Konfliftes zwiſchen individueller Überzeugung und Staatspflicht. Aus den Einzel-
fragen aber iſt die wichtigſte grundſäßliche Erörterung zur Staatstheori? überhaupt
erwachſen.
Der Anſprud) des Staates auf den unbedingten Primat ſeiner Intereſſen, auch gegen-