Full text: Vom Büchertisch - 1898 (7)

VoM BÜCHERTISCH. 
- Nonatsveilage zu den Deufschen Blättern für erziehenden Unterricht. 
Herausgegeben von 
Januar, 1898. 
FRIEDRICH MANN. 
Nr. 1 
 
Inhalt; 1, PäÄdagogische Roman- und Novellenlitteratur. 
Matthieu Schwann, Heinrich Emanuel. Die Geschichte einer Jugend. John Henry Mackay" 
Albert Schnells Untergang. Maurice Reinhold yon Stern, Walter Wendrich. Roman aus "der Gegenwart. -- 2. Deutsche Sprache und Litteratur, Kern, 
Franz, Grundriſs der deutschen Satzlehre, Jos. Schiffels, Sprachbüchlein für die Mittelstufe. Dergelbe, EHilfsbuch für den Unterricht in der Rechtschreibung etc. 
J. B. Krämer, Praktisch erprobte Musteraufsätze und Übungsstoffe ets. E. Wilke, Joh. Jos. Wolff, Lesebuch 
für Fortbildungsschulen. 
3. Zur Litteratur des weiblichen Handarbeitsunterrichts. 
Hugo Weber, Lehr- und Legebuch für Fortbildungsschulen ete. 
Aufsätze für Fortbildungs- und Gewerbeschulen, 
Rudolph Lotbar, Kritische Studien zur Psychologie der Litteratur. -- 
Krauge-Metzel, Der Schulunterricht in den Nadelarbeiten. -- Neu erschienene Bücher. 
 
1. PädagogiSche Roman- u. Novellenlitteratur. 
Begprochen von C. ZIEGLER. 
Matthieu Schwann, Heinrich Emanuel. Die Geschichte einer 
Jugend. 336 S. Berlin, 8. YFischer, 1895. Preis 3,50 M. 
Diegse Geschichte einer Jugend, die in der Hauptgache die Jugend- 
geschichte des VerfasSers gelbst zu Sein Scheint, richtet ihre Spitze gegen 
die Bigotterie in der Erziehung und zeigt, wie eine bigotte Erziehung 
das Gegenteil von dem erreicht. was gie erreichen will. Die psycho- 
logische Motivierung der Entwickelung des Helden ist Sehr gut ge- 
lungen, 80 daſs das Buch 8chon von diesem Gegichtspunkte aus für den 
Erzieher eine interesgante Lektüre bildet. Was es auſfserdem noch 
pädagogisch lehrreich macht, das sind die zahlreichen Einzelbilder 
aus dem Schulleben während der ersten Zeit des Kulturkampfes, die 
uns Sehr überraschende Einblicke in das Leben und Treiben in den 
rheinischen Gymnagien jener Zeit gewährt. Daſs der Verfasger nacb 
dem Leben zeichnet, ist unschwer zu erkennen. Gewüngcht hätte 
ich nur, daſs er den Rektor, der beinahe Sein Schwiegervater geworden 
wäre, nicht 80 deutlich bezeichnet hätte, daſs das Modell für jeden, 
der mit den Verbhältnisgen der alten Reichsstadt nur einigermalſsep 
vertraut ist, Sofort zu erkennen ist. Das stört in der unbefangenen 
Lektüre. Schwann hätte auch den Schein meiden gollen, andere als 
rein künstlerische Absichten zu haben. 
John Henry Mackay, Albert Schnells Untergang. 167 8. Ber- 
- lin, S. Figecher, 1896. Preis 2 M. 
Albert Schnell ist Volksschullehrer in einem pommerschen Land- 
Städtchen und kommt nach dem Tode Seiner geliebten Frau innerlich 
gebrochen und völlig energielos nach der Reichshauptstadt. Sich 
geistig zu beschäftigen, hat er nie vergucht; er hat keine Interessen, 
und zu legen macht ihm wenig Vergnügen, 8chwerere wisgenschaftliche 
Arbeiten bleiben ihm verschlossen. Um dem drohenden Gespenste 
der Langeweile zu entfliehen, unternimmt er planlos Spaziergänge. 
Auf einem golchen drängt gSich eine hungernde Cocotte an ihn heran, 
und er hat nicht Soviel Willenskraft, Sie zurückzuweisen. Sie drängt 
Sich wieder an ibn 'heran und wieder, und in einer schwachen Stunde 
fällt er. Erst spekuliert sie auf sein Mitleid, dann erregt Sie Seine 
Sinnlichkeit, und schlieſslich beherrscht gie ihn allein durch ihren 
Stärkeren Willen. Trotzdem er Sich mit allen Fagern Seines Herzens 
dagegen sträubt, gerät er immer tiefer unter ibre Macht, endlich 
rafft er Sich zum Handeln auf, doch es ist Schon zu spät -- in 
Stumpfer Verzweiflung Sucht er den Tod in der Spree. In Ppsycho- 
logischer Hingicht ist die Erzählung ein Meisterwerk. Da der Ver- 
fasger noch einen -zweiten Berliner Volksschullehrer. einfübrt, hätte es 
die poetische Gerechtigkeit erfordert. Schnell einen würdigen Ver- 
treter zur Seite zu stellen. Der eine Lehrer ein Waschlappen und 
der andere in einer mehr als bescheidenen Wohnung im Hinterhause 
und Vater von einem »Rudel Kinder« -- das ist kein wirklicher Rea- 
Jiemus. 
Maurice Reinhold von Stern, Walter Wendrich. Roman ans 
der Gegenwart. 1. Bd. 5158. Zürich u. Leipzig, Verlag von 
»Sterns litterarischem Bulletin der Schweiz«, 1895. Preis 4 M. 
Mäurzee Reinhold von Stern, der als einer der ersten Lyriker 
anfs beste bekannt ist, legt uns in »Walter Wendrich« einen Bildungs- 
roman . im. Sinne des »Wilhelm Meister« und des »Grünen. Heinrich« 
vor. Ds ist im wegentlichen eine Seibstbiographie, Walter Wendrich 
iSt niemand anders als der Dichter gelbst, und wir gehen nicht feh], 
wenn wir annehmen, daſs in diesgem Romane die Wahrheit die Dich- 
 
tung überwiegt. Was man vom -Standpunkte des Kunstrichters dem 
Werke vielleicht zum Vorwurf machen könnte, daſs die Jugendzeit 
einen zu groſßsen Raum einnehme, das macht es für den Psychologen 
doppelt wertvoll. Ausführlich schildert der Verfasger die primären 
Faktoren Seiner Entwickelung. Seiue Eltern waren zwei grundver- 
gchiedene Naturen, die ich aulſser in ihrer Liebe nur noch in ibrer 
lantersten Wahrbaftigkeit berührten. Der Vater, in dem trotz geiner 
adeligen Herkunft gich ein geheime demokratisches Wesen zu ver- 
bergen schien, war aus derber Genuſssucht und kühnstem Idealismus 
zugammengegetzt, während die Mutter, eine Aristokratin von Geblüt 
und Überzeugung, an sinnlichen Dingen nur wenig Gefallen fand und 
einen 80 empfindlichen Seelenstolz begals, daſs ihr gelbst das Reden 
vom Esgen und Trinken tief innerlich zuwider war. Auch ihre Frömmig- 
keit war von anderer Farbung als die des Vaters. In dem Ursprung 
von Vater und Mutter gabelte Sich Walters eigenes, innerstes Leben als 
eine Mischung von Idealiemus und Sinnlichkeit, von aristokratischer 
und demokratischer Gesinnung, von Schwärmerei und Rationalismus. 
Die Entwickelung geines eigenen Charakters stellt eich als ein un- 
geheurer Kampf der väterlichen mit den mütterlichen Eigenschaften 
dar, ein Kampf, in dem die Wage der Entscheidung unaufhörlich 
Schwankte. Ebens0 anschaulich schildert der VerfasgSer den -Einfluls 
der gekundären Faktoren. Als Walter die Schule verliels, da waren 
es feindliche Gefühle, die ihn begleiteten, er halste die Angehörigen, 
die nicht imstande waren, ihn richtig zu beurteilen, er haſste die 
Schule, die mit rohen Händen die Blüte Seiner Jugend zerpflückt 
hatte, er haſste die überlieferte Form der Erziehung, die die oberste 
Pflicht aller Pädagogik auſser acht läſst, der Eigenart Rechnung zu 
tragen. Als Jüngling von 17 Jahren tritt er in die Reihen: der Armee 
und eignet aich dort die erste Grundlage Seiner Menschenkenntnis 
an. Drei Jahre später zerbricht er die Ketten und geht in das Land 
der Freiheit, nach Amerika, um dort durch Arbeit in alle Schichten 
der Gegellschaft ein zudringen und alle dadurch kennen zu lernen. 
In harter Schwerer Arbeit, in Kummer und Hunger wurde Walter in 
Amerika mit Drachenblut gebadet und unverwundbar, aber er kam 
zu der Erkenntnis, daſs Seine Kräfte gich gegenstandslos verzehrten, 
daſs er geine Kämpfe in der alten Welt auszukämpfen habe, wo Seinem 
Herzen verständlicher das grolse Leid des Jahrhunderts geklagt wurde. 
Wir werden nach Erscheinen des zweiten Bandes, dem man mit 
gröſßster Spannung entgegensehen darf, Sofort darauf zu Sprechen 
kommen. Den vorliegenden Band empfehlen wir aufs wärmste. 
2. Deutsche Sprache und Litteratur. 
Besprochen von H. J. EISPNHOFER in Ludwigshafen a. Rh. 
Kern, Franz, weil. Dir. des Köllnischen Gymnasiums in Berlin, Grun d- 
riſs der deutschen Satzlehre. 3. Auflage. Berlin, Nicolai 
(R. Stricker), 1896. XU, 91 8. Preis geb. 1 M. 
Die Kern chen Reformgchriften haben bekanntlich eine lebhafte 
Bewegung hervorgerufen und bereits auch eine Scheidung der Geister 
veranlaſst. Selbst wenn ihnen eine positive Bedeutung abgesprochen 
werden mülste, 30 bätten gie doch für immer in der Geschichte der 
Methodik des deutschen Unterrichts ihren Platz, weit-gie die Reform- 
bedürftigkeit der Grammatik, besonders der Satzlehre in der nach- 
drücklichsten Weise dargelegt haben. »Meine Arbeiten«, Sagt Kern 
in der lehrreichen Schrift »Zustand und Gegenstand«, »bezwecken keine 
Förderung der Sprachwisgenschaft, Sondern eine Reinigung des deut- 
Schen Sprachunterrichts von unwisSenschaftlichen Meinungen und un- 
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