Full text: Pädagogische Reform - 10.1886 (10)

we 
heben wird. 
Schwelle einer neuen Kulturepoche, 
Dieſe Zeitung erſcheint jeden Freitag 
und iſt dur&< alle Buchhandlungen und 
Poſtanſtalten (Nr. 3756) zu beziehen. 
X. Jahrgang. 
Hierzu eine Beilage. 
 
Reujahrsgedanken. 
Motto: „Die Wahrheit wird euch frei machen“. 
Wie ver Bergmann zur neuen Schicht, ſo rüſten 
wir uns zur Arbeit des neuen Jahres: Glü> auf ! 
Dunkel liegt der Zukunft Schoß. Was birgt er ? 
Wohl hoffen wir, ihm reihe Shäße zu entheben. 
Bewahre uns nur der Himmel vor ſchlagendeu 
Wettern und den zerſtörenden Waſſern der Tiefe ! 
Glück auf! 
„Dein Neujahrs8gruß klingt ein wenig ſc<wer- 
mütig, Freund, faſt mö<ht' im ſagen „ahnungs: 
grauend! Was iſt's, Kaſſandra?“ 
Spotte nicht, lieber Leſer, die Zeiten find un- 
heimlich. Unter ver Winterdecke der Reaktion regen 
ſich tauſend und aber tauſend Keime des Werdenden. 
Die Frühlingsſtürme können nicht ausbleiben. Wer 
Augen hat zu ſehen und Ohren zu hören, der merkt 
wohl das Herannahen de3 Kampfes zwiſchen den 
(Slementen des Licht8 und der Finſternis. Die 
erſten Geiſtesſ<lachten | ſind ſhon längit geſchlagen. 
Die Parole iſt bereits gegeben: „Hie alter, hie 
neuer Glaube! Hie alte, hie neue Welt!“ Bald 
wird ſie in den Maſſen wiederhallen Die Ruhe 
an der Oberfläche darf uns nicht täuſchen, ſie iſt 
eitel Schein. E3 knat in allen Fugen. Gin 
unabweisbar dringendes Bedürfnis beherrſc<t, wie 
in früheren dumpfen Zeitläuften, ſo auch in unſerer 
ſchweren Zeit, ver Not die Menſchheit; eine ge- 
waltige, eine unwiderſtehbar gewaltige Sehnſucht 
ergreift alle Kreatur; Wahrheit! == „Was iſt 
Wahrheit?" Wir wiſſen es niht. Aber das wiſſen 
wir, daß das Leben dex Gegenwart in ſeinen <a- 
rakteriſtiſchen Zügen nicht „auf Wahrheit beruht. 
- Weder in Staat und Geſellſ<haft, noh in der Kirhe. 
Wir wollen freies Menſ<hentum -- und haben das 
Gotte8gnadentum und den Polizeiſtaat; wir wollen, 
daß allen Menſchen geholfen werde =- und ſehen 
dem Mammon gegenüber das Geſpenſt der Maſſen- 
- armut dem Zolk entgegen grinſen ; wir wollen Ge- 
danfen- nnd Glaubensfreiheit =- und laſſen die 
Vernunft in den Banden mittelalterlicher Befangen- 
heit verkümmern. Die Wiſſenſchaft iſt kühn voran- 
geſchritten ; aber ſie ſucht, wie weiland Diogenes, 
mit ihrer Laterne Menf<en, die aus den theoreti 
ſchen Errungenſchaften die praſtiſ<en Konſequenzen 
ziehen. Nur auf einem Gebiete hat ſie bislang 
- folgenſchwere Siege gefeiert, auf dem Gebiete der 
Technif. Und das iſt dex Stüßpunkt, von dem 
aus ſie die gegenwärtige Welt aus den Angeln 
In der That, wir ſtehen an der 
einer neuen 
Weltordnung. Die Löſung der ſozialen Frage iſt 
die umfaſſende Jdee, deren Realiſierung die Brüce 
von der Gegenwart in die Zukunft bedeutet; ſie 
iſt der leitende Grundgedanke der geſamten Fort« 
rittsbeſtrebungen unſeres Zeitalters. Aber noch 
Verantwortliher Redakteur: 
 
Hamburg, Freitag, den 1. Januar 1886. 
ſteden wir mitten im Zweifel, noh ſind wir auf 
der Suche nach der Wahrheit. Darum der Mangel 
innerlicher Befriedigung, die unſere widerſpruh3- 
volle Zeit nicht zu gewähren vermag; darum die 
nagende Pein in dem Zuſtande der allgemeinen 
Ungewißheit und Unſicherheit. Inzwiſ<en geſchieht, 
wa3 Börne ſo beißend als treffend ſagt: „Seitdem 
Pythagoras den Göttern eine Hekatombe geopfert, 
zittern alle Ochſen, wenn eine neue Wahrheit ent- 
debt iſt.“ Die Vertreter der alten Ordnung aber, 
die herrſchenden Gewalten, ſie gebrau<en den gan- 
zen Apparat ihrer Machtmittel, um die gefährliche 
Unterſtrömung niederzuhalten. Wahrlich, es iſt fein 
Wunder, wenn va die Dur<ſc<nitt3menſ<hen lieber 
ſich duden, als mucen ; daß ſie den Jugendidealen, 
wenn ſie ſolche gehabt, Valet ſagen und in dem 
alten Sumpfe mitwaten. Die Korruption des öf- 
fentlichen Lebens ſteft an wie die Veſt. Reiche 
dem Teufel der Heuchelei und Lüge den leinen 
Finger =. und er hat die ganze Hand. Mehr 
denn je gilt heute das Dichterwort : 
„Wer die Wahrheit denkt, der muß ſon ein 
Pferd am Zügel haben? 
Wer die Wahrheit ſprißt, der muß ſchon den 
Fuß im Bügel haven : 
Warheit übt, der muß ſfiatt der Arme 
Flügel haben = 
Und doh ſagt Mirza Schafiy : Wer da lügt, 
muß Prügel haben!“ -- 
So fehen wir das Bild der Zeit. Wenn es 
dem Leſer nicht gefällt, uns gefüllt es auch nicht. 
Wer die 
'Doch verzweifeln wir deshalb nicht an dem end- 
lihen Siege der Wahrheit und Freiheit. Die 
Idee der Menſchenwürdigkeit, einmal geboren , lebt 
und kann niht unterdrückt werden. Sie trägt den 
Ste“ „pel der Notwendigkeit und muß darum früher 
ode. ſpäter in die Erſcheinung treten. | 
Und was haben dieſe Weltbetrachtungen mit 
der Schule zu thun? Sehr viel! Die Sdule iſt 
ein Brodukt der Zeit. „Wer die Schule hat, hat 
die Zukunft.“ Sie iſt darum das Streitobjelt der 
kulturfortſhrittlihen und fulturrüFſhrittlihen Par- 
teien. Sie iſt gleichſam ein Miniaturbild der 
großen Zeitbeſtrebungen. Aud unſere heutige Schule, 
beſonder3 die Volksſchule, ſpiegelt den inneren Wi- 
derſpruch, die Inkonſequenz der obwaltenden Welt- 
anſhauung wieder. Die Poſtulate der exakten Wiſ- 
ſenſchaften finden mehr und mehr Aufnahme in den 
Lehrplan der Schule, doh iſt gerade der letzteren 
gegenüber der Wiſſenſchaft Halt! geboten worden. 
Wir lehren neben Phyſik und Chemie die altteſta- 
mentliche Schöpfungsſage und die Wundergeſchichten, 
neben der Mathematik und Aſtronomie die Dogmen 
des lutheriſchen Katehi3mus, neben der menſ<<lich- 
freien und ſchönen Moral unſerey Litteratur die 
zumteil recht anſtößigen Vorbilder aus der alten 
jüdiſ<en Geſchichte, neben der Kulturgeſchichte den 
Franzoßenhaß u. dal. m. Wir haben konform der 
Standesgeſellſhaft die Standesſ<hule; wir fordern 
aus der Jdee der ſozialen Gleichberehtigung die 
 
Harro Küöhnt>e, 
Fettſtraße 36. 
Verlag von C. Boyſen, gr. Bleichen 32. 
Annoncen und Beifagen werden von dem Redakteur Harro Kößnc>ke, Fettſtr. 36 und von ſämtlichen 
Annoncen - Expeditionen entgegengenommen. 
bei direkter Zuſendung h 1,70. Inſerate 
pyro Retitzeile 20 A. 
RERE 
Ar. L 
allgemeine Volksſhuls. Kein Zweifel, die Volks- 
ſchule hat ſich in den lezten Dezennien ungemein 
gehoben, unſere hamburgiſche ganz beſonders. Das 
erfennen wir dankbar an. Aber e3 bleibt noh ein 
große3 Stü zu thun übrig; niht3 mehr und nichts 
weniger, als ſie der modernen Bildung entſprechend 
zu organiſieren, ſo daß fie in allen Dingen dex 
Wahrheit die Ehre giebt. Das wird aber nicht 
eher geſchehen, als bis das Rad der Zeit über 
mancherlei veraltete Inſtitutionen und traditionelle 
Vorurteile hinweg gerollt iſt. Von der neuen Ge- 
ſellſ<aft wird die Reform der Shule ausgehen und 
befeſtigend auf ſie zurückwirken. Darum glaubten 
wir uns beauftragt, unſeren Neujahr3gedanten einen 
etwas weiteren Spielraum gewähren zn dürfen. 
Volk und Shule in inniger Wechſelbeziehung auf 
der Grundlage der Wahrheit, Freiheit und Gerechtig- 
feit, das ſei und bleibe unſere Loſung! Zn dieſem 
Sinne noch einmal zum neuen Jahre ein kräftiges 
GlüF auf! 
 
„FSnfwurf eines neuen Zevgnisbuches. 
(Eingeſandt). 
In ſeinen lezten Sizungen hat ſich der Ver- 
ein der hieſigen Hauptlehrer mit der Herſtelhung 
eines Formular3 zu einem neuen Zeugnisbuche be- 
ſhäftigt. Da wir in Lehrerfreiſen ein großes In- 
tereſſe für dieſe Angelegenheit vorausſeten, ſo teilen 
wir in Nachſtehendem den in der lezten Verſamm- 
lung, am 15. Dez. , angenommenen Entwurf mit. 
(Dieſes Schema iſt für eine Mädchenſchule be- 
ſtimmt, das für vie Knabenſchulen erfährt natürlich 
eine leine Modifikation i in den bezügli<en Fächern.) 
Titelblatt. 
Shulzeugniſſe 
für 
N. N. 
geboren dn. uuuoo non eieie enim in nn 0 18 . 
aufgenommen Dd. cue nob one nien nr m 18... 
in die 
öffentlihe Volksſchule des . . . . Sc<ulbezirks 
„eo wnn» No... .. 
 
Abſtüfung der Zeugniſſe: 
für Betragen und Ordnung: 1. fehr. gut, 2. gut, 8, 
tadelnswert, 4. ſchlecht“ . 
für die übrigen Zeugniſſe: 1. ſehr.“ gut, -27gut, 32 ge... un 
nügend, 4. mangelhaft, 5: uigenügend. 
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