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geſagt hat, nur lauten können: „Ich hab' von ferne, Herr, deinen
Thron erblickt!“ --- Es iſt die Phantaſie, die in dem vorliegen-
den Falle in Wirkſamkeit getreten iſt. .Ein Allgemeines, die Jdee
- der Mutterliebe, iſt in dem beſtimmten Bilde der Madoma in
lebendigjter Weiſe veranſchaulicht worden. Alle Kunſtthätigkleit
iſt Thätigkeit der Phantaſie; jedes Gedicht, jedes Gemälde, jedes
Tonſtüc, jeder architektoniſche Bau iſt eine Schöpfung der
Phantaſie. --
Machen wir uns das Weſen der Phantaſie noch in anderer
Weije klar. I< ſagte: die Phantaſie iſt diejenige Thätigkeit,
durch welche das Allgemeine veranſchaulicht wird. Das wird uns
noc< deutlicher, wenn wir ſie mit ihrem Gegenſtüc> zuſammen-
ſtellen. Das Gegenſtük der Phantaſie iſt aber der Berſtand,
Beide ſtreben nach entgegengeſehten Seiten auseinander, wie die
beiden Pole eines Magnetſtabes, wie die Endpunkte eine8 Durch-
mejſers im Kreiſe, Der Verſtand geht vom Einzelnen zum All-
gemeinen, von den Gegenſtänden der Wirklichkeit um uns, zur
Vorjtellung, zum Begriff, zur Jdee in uns. Die Phantaſie geht
den umgekehrten Weg. Sie bringt die in der Seele ruhende
Vorſtellung, den Begriff, die Idee zur Erſcheinung, führt ſie der
Anjechauung vor. Der Verſtand zieht aus dem Beiſpiel, aus der
Fabel, dem Gleichnis die allgemeine Wahrheit heraus; die Phan-
tajie dagegen verdeutlicht die abſtrakte Regel, den allgemeinen
Saß, durch veranſchaulichende Exempel.
Ein alter Krebs ſprach zu einem jungen Krebſe: „Lieber
Sohn, du mußt nicht rückwärts gehen, ſondern vorwärt38!" „Ja,
Vater,“ ſprach der junge Krebs, „ich will es thun, wenn ihr es
mir zuerſt vorgemacht habt!" =- Merke, ſagt der zuſammen-
faſjende Verſtand, das Vorbild ſteht höher als die bloße Be-
lehrung. Exempla trahunt! Das iſt die allgemeine Wahr-
heit, die wir aus dieſer Fabel entnehmen ſollen. -- Und-
nun der andere Fall: So ſpricht der Herr: „Du ſollſt nicht
töten!“ Das ijt: „Wir ſollen Gott fürchten und lieben, daß wir
unjerm Nächſten an ſeinem Leibe keinen Schaden noch Leid thun,